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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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hat.
    Zum Glück fragt ihn auch niemand nach seiner Kindheit, über die er nicht spricht und auch nicht sprechen will. Bloß nicht wieder diese alten Geschichten! Bloß nicht an das stumme Kind und seine stumme Mutter denken! Wenn irgendjemand ihn auf seine Vergangenheit anspricht, macht er einige Bemerkungen zum Leben im Internat und erklärt zum Beispiel, wie dort der Stundenplan ausgesehen und welche Kompositionen er einstudiert hat.
     
    Mit seinem Klavierspiel hat er sich gleich in den ersten Tagen im Gymnasium großen Respekt verschafft. Im Musikunterricht musste er vorspielen, die Stücke konnte er sich aussuchen. Er spielte den ersten Satz einer Englischen Suite von Bach und als Zugabe einige der kurzen Papillons- Stücke von Robert Schumann. Hinterher sagte ihm ein Mitschüler, dass er wahrscheinlich der beste Klavierspieler am ganzen Gymnasium sei, selbst die Schüler der letzten Klassen spielten nicht so gut wie er. Seit diesem Vormittag gilt er als großes Talent, das man bei öffentlichen Konzerten der Schule ins Rennen schicken wird.
    Er macht sich nicht viel aus diesen Auftritten, denn er weiß, dass die eigentliche Pianisten-Konkurrenz nicht am Gymnasium, sondern an der Musikhochschule zu suchen ist. Den Unterricht bei seinem Klavierlehrer Walter Fornemann intensiviert er; seit er auf das Gymnasium geht, sucht er ihn wieder wöchentlich auf. Anfangs ist Fornemann nicht mit ihm zufrieden, er findet sein Spiel blass und viel zu beherrscht, doch das ändert sich, als sie sich endlich auch wieder mit Kompositionen beschäftigen, die jünger sind als die von Bach, Mozart und Beethoven.
     
    Das im Internat begonnene Orgelspiel gibt er zum Teil auf, jedenfalls nimmt er keinen Orgelunterricht mehr, da Walter Fornemann ihm davon abgeraten hat. Das Orgelund das Klavierspiel sind zweierlei und schon wegen der Anschlags-Technik nicht miteinander zu vereinbaren - so lautet eine der typischen Fornemann-Erklärungen zu diesem Thema, die keine Widerrede erlauben.
    Ganz und gar trennen kann er sich jedoch noch nicht von der Orgel, und um die heimliche Zuneigung nicht von einem Tag auf den andern beenden zu müssen, sucht er während seiner Streifzüge durch die Kölner Kirchen manchmal die Empore oder einen Bereich seitlich vom Altar auf, um auf einer Orgel zu spielen. Meist trifft er auf gut verschlossene Instrumente, aber es kommt – vor allem bei kleineren Orgeln – auch vor, dass sie unverschlossen dastehen.
    Wenn er einen solchen Glücksfall erlebt, spielt er einige Zeit in der menschenleeren Kirche, manchmal sogar stundenlang. In dieser Zeit verwandelt er sich wieder zurück in den gläubigen Internats-Schüler, der sich den Mönchen so nahe glaubte und kaum etwas Schöneres kannte als ihre gregorianischen Gesänge. Diese Art des Gesangs liebt er noch immer sehr, aber auch darüber spricht er mit niemandem.
     
    Ihm gefällt, dass er jetzt viel mehr Zeit hat als in den Jahren zuvor. Der Schulunterricht dauert bis auf eine Ausnahme in der Woche nur bis zum Mittag, danach hat er frei. Einmal in der Stunde fährt der Zug zurück aufs Land, aber er nimmt nicht den ersten, den er bekommen kann, sondern täglich einen anderen. Um rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause zu erscheinen, ist es sowieso zu spät, deshalb verbringt er manchmal noch weitere Stunden in Köln und fährt erst am späten Nachmittag oder am frühen Abend nach Hause zurück.
     
    Auch die abendliche Ankunft auf dem Land gefällt ihm, ja, es ist schön, noch bei Helligkeit auf dem kleinen Bahnhof anzukommen und über die Felder und am hoch gewachsenen Getreide vorbei wieder nach Hause zu gehen. Manchmal ist die Luft über den Wiesen milchig und ein brütender Dunst, dann sind die Gerüche, die die Landschaft ausströmt, schwer und betäubend. Oft kommt auch ein starker Regen vom Himmel, den er meist als sehr wohltuend empfindet. Nass geregnet kommt er zu Hause an und rubbelt sich die Nässe vom Haar, während in der Küche das Abendessen vorbereitet wird, die einzige Mahlzeit, die er zusammen mit den Eltern einnimmt.
     
    Seit er mit ihnen auf dem Land lebt, fühlt er sich viel wohler als in den Jahren, die sie gemeinsam in Köln verbracht haben. Das Haus auf der Höhe ist ein helles, klares, genau für seine drei Bewohner geschaffenes Gebäude mit vielen kleinen Kammern und Räumen, in denen man gut allein sein kann. Seine Stube unter dem Dach zum Beispiel ist so eine Kammer für das Alleinsein, nur ein Schreibtisch und eine Liege passen hinein,

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