Die Erfindung des Lebens: Roman
für ihn geschaffen.
Wenn er mittags nach der Schule in eines hineingeht, sitzen in den dunklen, schwach beleuchteten Innenräumen mit ihren schmalen Klappsesseln kaum ein paar Menschen. Es riecht etwas muffig, als wäre seit Monaten kein Luftzug durch diese Räume geweht, überhaupt hat die Atmosphäre etwas Schläfriges, etwas von unaufgeräumten Schlafzimmern und Dämmerstuben, das ist ihm aber nur recht, auch wenn viele Besucher den billigen Aufenthalt wahrhaftig zu einem kurzen Tiefschlaf nutzen. Er aber schaltet auf Empfang, er ist hellwach, angespannt setzt er sich in eine der letzten Reihen, legt seinen Anorak oder den Mantel ab, verstaut seine Tasche unter einem Stuhl und macht es sich bequem. Endlich darf er schauen, nur schauen, das Kino ist für ihn der Raum der unbegrenzten Blick-Kontakte mit der halben Welt, ärgerlich ist nur, wenn die Filmbilder zu schnell sind und er ihnen deshalb nicht folgen kann.
Filme, die ihn nicht interessieren, gibt es nicht, deshalb braucht er im Einzelfall auch nicht darüber nachzudenken, ob er sich lieber diesen oder jenen Film ansehen sollte. Er schaut kurz auf die Plakate in den Glasvitrinen neben den Eingängen, er lässt sich durch irgendein beliebiges Detail anlocken, dann zahlt er ein paar Groschen und schmiegt sich durch den Spalt eines abgewetzten Samtvorhangs ins Dunkel.
Meist beginnt das Programm mit Zeichentrick-Filmen, dann kommt die Werbung, und erst nach etwa einer halben Stunde beginnt der eigentliche Film. Von jedem, den er gesehen hat, schreibt er den Titel auf und dazu zwei oder drei Sätze darüber, was in dem Film vorkam und wie er ihm gefallen hat. Für diesen Zweck hat er eine eigene Kladde angelegt, in die er manchmal auch noch Zeitungsartikel über die jeweiligen Filme einklebt.
Seine Vorliebe gilt den Western-Filmen, von denen er sich viele mehrmals anschaut. Manchmal starrt er dann derart lange und genau auf die weiten Hintergründe der Berge und Landschaften, dass er den Faden der Handlung verliert. So etwas passiert ihm aber auch in anderen Filmen, er achtet einfach sehr auf Details, die mit der Handlung nichts zu tun haben, es sind Details der Einrichtung oder einer Nebenfigur, die ihn gelegentlich mehr interessieren als alles andere. In solchen Fällen ist er nach einer Weile so durcheinander, dass er sich den Film auf jeden Fall ein zweites Mal ansehen muss, um ihn zu verstehen. Oft genügt aber auch das nicht, dann braucht er sogar noch ein drittes Mal, er kommt von den merkwürdigen Ticks seiner Wahrnehmung einfach nicht los, und genau diese merkwürdigen Ticks sind es denn auch, die mit der anderen, dunkleren Seite seines Lebens zu tun haben …
Von dieser anderen, dunklen Seite muss ich jetzt auch erzählen, denn all das, was ich bisher von dem Jungen in der Adoleszenz erzählt habe, stimmt zwar, ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte aber, die ich bisher ausgelassen oder verschwiegen habe, hat mit den Resten meiner Vergangenheit zu tun, über die ich damals am liebsten überhaupt nicht mehr gesprochen hätte. Ich sprach auch fast nie über sie, ich ließ sie beiseite, und zwar so konsequent, dass während meiner gesamten Gymnasialzeit weder ein Lehrer noch ein Schüler etwas von ihr erfuhr. Und genau mit dieser scharfen Konsequenz machte ich danach weiter: Kein Wort über das Vergangene, kein Sterbenswörtchen ! – das war ein Leben lang meine Devise, und ich habe mich bis auf sehr wenige Ausnahmen auch bis heute daran gehalten.
Dass ich diese Vergangenheit aber nicht loswurde, das zeigte sich schon bald nach meiner Rückkehr in die mir so vertraute und nahe Stadt an Verhaltensweisen, die mir mit der Zeit selbst unheimlich wurden. Anstatt nämlich um die Gegend, in der wir früher gewohnt hatten, einen weiten Bogen zu machen, näherte ich mich dem großen ovalen Platz vor unserem ehemaligen Wohnhaus von Tag zu Tag etwas mehr.
Es war wie eine Sucht, ja, ich handelte und bewegte mich wie ein Süchtiger, als ich zunächst wieder das Brauhaus aufsuchte, in das ich früher mit meinem Vater gegangen war, und mich wenig später von einer früheren Lebensstation zur anderen treiben ließ. Die alten Räume, sie waren noch alle vorhanden, und alle erschienen sie unschuldig und harmlos, als wären sie nie Räume meines kindlichen Schreckens gewesen: Der Kiosk, die kleine Kirche mit dem Marienaltar, die Geschäfte und Läden in den Seitenstraßen und schließlich der Kinderspielplatz direkt vor unserem Haus.
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