Die Erfindung des Lebens: Roman
und daneben gibt es noch ein Regal für seine Bücher und Schallplatten.
Auch die Mutter hat eine kleine Stube nur für sich selbst, ihr alter Lesesessel steht darin und ein Sekretär, an dem sie ihre Briefe schreibt. Sein Vater aber hat in dem kleinen Blockhaus, das etwas entfernt mitten im Wald steht, sein Büro eingerichtet. Neben den üblichen Büromöbeln gibt es auch hier einen Schallplattenspieler und eine große Schallplatten-Sammlung, Vater hört Musik meist unglaublich laut, im Wald ist das aber möglich, denn noch immer wohnt der nächste Nachbar einige Kilometer entfernt.
Weil jeder von den dreien gern allein ist und sich allein gut beschäftigen kann, ist das Abendessen meist die einzige Zeit des Tages, die sie gemeinsam verbringen. Fernsehen gibt es nicht, die Mutter möchte auf keinen Fall fernsehen, und der Vater würde sich höchstens politische Sendungen anschauen, kann darauf aber zugunsten des Radios gut verzichten. Wenn sie gemeinsam etwas unternehmen, spielen sie abends Karten oder Schach, Schach spielt er nur mit dem Vater, Karten spielen sie aber auch manchmal zu dritt, die Mutter liebt das Kartenspiel und ist oft die Einzige, die nach vielen Runden noch weiterspielen will.
Auch in dem kleinen Haus auf der Höhe mit dem weiten Panorama-Blick auf das umgebende Land ist es also tagsüber sehr still. Wenn er Klavier üben will, geht er in einen eigens hergerichteten, schalldichten Kellerraum, auf dessen schlichte Holztür der Vater mit Hilfe einer Schreibschablone das Wort Überaum geschrieben hat. Im Überaum steht das alte Klavier der Marke Sailer , das irgendwann gegen einen Flügel ausgetauscht werden soll. Ein solcher Flügel aber ist teuer, und das Geld für eine so teure Anschaffung ist noch nicht da.
Der Junge, den ich so deutlich sehe, hat jedoch eine Idee, wie er an das notwendige Geld herankommen könnte, doch er hat sich noch nicht getraut, diese Idee zu verwirklichen. Sie hat mit den Pferden auf der Galopprennbahn Weidenpesch zu tun, auf der er jetzt manchmal wieder etwas Zeit verbringt, und läuft darauf hinaus, durch eine einzige, riskante Wette auf einmal das gesamte Geld zu verdienen.
Damit das möglich ist, muss er sich jedoch vollkommen sicher sein, wie ein bestimmtes Rennen ausgehen wird, eine solche Gewissheit traut er sich aber nur zu, wenn er jedes der zu einem bestimmten Rennen antretenden Pferde auch genau kennt. Das jedoch wird sich so schnell nicht ergeben, was ihn vorläufig auch deshalb nicht stört, weil er sich dem Klavier der Marke Sailer verbunden fühlt und gar nicht sicher ist, ob er sich jemals von ihm trennen könnte.
Die drei, die zusammen im einsamen Haus auf der Höhe leben, lassen also einander viel eigenen Raum und vor allem auch Zeit. So fragen ihn seine Eltern nicht, was er während eines Tages nach der Schulzeit getan hat, sie vertrauen vielmehr darauf, dass er seine Zeit gut einteilt und sie auf eine ihn befriedigende Weise nutzt. Das aber tut er nach seinen eigenen Vorstellungen tatsächlich, auch wenn er auf den ersten Blick oft nur durch die Stadt schlendert, sich am Fluss entlangtreiben lässt, sich irgendwo ins Grüne zurückzieht, etwas liest oder in einer der Seitenrinnen des großen Flusses badet.
Während dieses Schlenderns und Streunens hat er das Gefühl, endlich mehr von der Welt, von der er in der Vergangenheit so wenig mitbekommen hat, zu erfahren. Immer wieder bleibt er stehen und schaut sich lange etwas an, so dass es wie in seiner Kindheit manchmal vorkommt, dass ihn jemand fragt, warum er denn derart lange auf einen einzigen Punkt starre. Er braucht aber nach wie vor Zeit, denn all das, was er sieht, hat erst noch einige Fremdheits-Sperren zu überwinden, bis es in seinem Gehirn und vor allem in seinen Empfindungen ankommt. Schaut er nur flüchtig hin, vergisst er sofort wieder, was er gesehen hat, er will aber nicht vergessen, sondern so viel wie möglich behalten, um es meist noch am selben Tag in seine Hefte notieren und damit festhalten zu können.
Am meisten aber sieht und lernt er im Kino. Während seiner gesamten Kinderjahre war er nur einziges Mal und auch wohl nur für ein paar Minuten dort, weil die Mutter sich im Kino nicht wohlfühlte, Platzangst bekam und wieder hinaus musste. Er aber hat im Kino keine Angst, nein, im Gegenteil, es gibt kaum einen Ort, wo er sich so sicher und geborgen fühlt wie im Kino. Im Kino nämlich ist und bleibt er für sich, niemand spricht ihn an oder stört, das Kino ist
Weitere Kostenlose Bücher