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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Vergangenheit zu tun haben, mit dieser dunklen, verfluchten Vergangenheit, irgendetwas Schlimmes musste da geschehen sein, das dem Klavierspiel der Mutter dieses furchtbare Ende gesetzt hatte.
    Da Mutter aber das Taschentuch gar nicht sehen konnte, nahm ich es Vater aus der Hand und hielt es ihr hin, indem ich sie mit der Hand an der Seite berührte. Sie richtete sich ein wenig auf und fuhr sich mit der Rechten durchs Haar, jetzt erkannte ich ihr Gesicht wieder, die langen schwarzen Haare fielen zu beiden Seiten wie durcheinandergeratene, verdrehte Lianen herab, es war, als erwachte sie aus einem hässlichen Traum, so benommen kam sie mir vor. Erleichtert sah ich, dass sie mich erkannte, ganz selbstverständlich nahm sie mir das Taschentuch ab und trocknete und rieb sich die Augen, und dann umarmte sie mich, als hätten wir uns nach einer langen Irrfahrt endlich wiedergefunden.
    Vater aber verließ das Esszimmer und ging hinüber ins Bad. Ich hörte, wie er Wasser laufen ließ und aus der offenen, hohlen Hand trank. Bestimmt würde er sich jetzt auch mit der nassen Hand durchs Gesicht fahren und den Kopf daraufhin mit einem Handtuch massieren. Ich konnte mir das alles genau vorstellen, in dieser Hinsicht wusste ich wenigstens einmal Bescheid.
     
    Mutter aber stand auf und schnäuzte sich noch ein letztes Mal, dann hielt sie einen Moment inne, als käme ihr ein guter Gedanke. Ich spürte förmlich, wie dieser Gedanke entstand und sich in ihr festsetzte. Er hatte mit ihrer Verzweiflung, dem Klavier und mit mir zu tun, es war die eine Sekunde, die über mein ganzes, weiteres Leben entschied.
    Während sie sich nämlich vom Klavierhocker erhob, zog sie mich näher an sich heran, näher, immer näher. Sie brauchte mich nur noch ein wenig zu drehen und zu führen, damit ich begriff, was sie wollte. Sie wollte, dass ich mich auf den Hocker setzte und an ihrer Stelle dort Platz nahm. Ich setzte mich und ließ die Füße wie auf der Bank am Rhein baumeln, ich saß jetzt vor der schwarzweißen Tastatur, die ich schon einige Male heimlich betrachtet hatte. Sollte ich jetzt darauf spielen, hatte sie das mit mir vor?
    Die schwarz-weißen Tasten starrten mich an und schienen darauf zu warten, was nun geschehen würde. Ich wollte ein Zeichen geben, dass ich bereit war, deshalb legte ich meine beiden Hände mit weit ausgestreckten Fingern vorsichtig auf die Tastatur, ohne eine einzige Taste niederzudrücken. Wie Geisterhände lagen meine Hände nun auf den Tasten, da beugte meine Mutter sich über mich und schlug mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand eine einzelne Taste an, dreimal, viermal tippte sie auf das weiße Elfenbeinholz, dann war es still. Ich streckte den Zeigefinger meiner rechten Hand aus und schlug dieselbe Taste an, ich blickte mich kurz nach Mutter um, ja, sie war einverstanden damit, dass ich nun spielte. Und so begann ich, mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam von Taste zu Taste hinaufzuwandern, erst die weißen, dann nur die schwarzen, dann abwechselnd weiß und schwarz, dann von oben nach unten, erst nur die weißen, dann nur die schwarzen, dann abwechselnd weiß und schwarz, bis ich die ganze Tastatur durch hatte.
    Ich hörte aber nicht auf, sondern machte mit dem Zeigefinger der linken Hand weiter, die weißen, die schwarzen, ich hatte alles andere aus dem Blick verloren, ich hörte und achtete auf nichts mehr als auf die Musik, es war meine Musik, ich machte Musik, ich hatte endlich etwas gefunden, mit dem ich mich bemerkbar machen konnte.
     
    Später hat man mir erzählt, dass ich beinahe zwei Stunden Tasten angeschlagen habe und nur durch den Protest der Nachbarn daran gehindert wurde, noch länger zu spielen. Alle Ticks und Spleens, die ich bisher entwikkelt hatte, schienen in dieses Spiel einzugehen. Ich merkte mir Tastenkombinationen und probierte neue Varianten, ich gab ihnen Namen von Tieren und Pflanzen und entwarf im Kopf große Karten, auf denen diese Tiere und Pflanzen ihre jeweils eigenen Plätze hatten. Es war, als hätte man mir die Aufgabe gestellt, eine Liste mit Hunderten und Tausenden von Eintragungen anzulegen, die nur ich im Kopf hatte und deren Posten ich auseinanderhalten konnte.
    Waren die langen Gottesdienste im Dom wie eine Ahnung der Erlösung, so war das Klavierspiel noch mehr, es war die Umsetzung dieser Ahnung. Das kleine Gotteskind war nicht mehr ein stummer, hilfloser Idiot, sondern ein Klavierspieler, der jetzt einer regelmäßigen Beschäftigung nachging. Noch am

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