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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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diese Musik erschien mir instinktiv wie ein Ausweg ins Freie und in jene schönere Welt, von der ich bisher nur in den Gottesdiensten eine schwache Ahnung erhalten hatte. War es schwer, so zu spielen? Oder gelang so etwas bereits nach einigem Üben?
    Ich wollte hinüber ins Esszimmer schleichen, als alles zusammenbrach. Ich hörte noch einige Akkorde, dann laute, dissonante Schläge, schließlich einzelne Töne, mal sehr hoch, mal wie ein dröhnendes Pochen aus tiefsten Kellern, als hacke jemand voller Wut und außer Kontrolle auf das Instrument ein. Dann aber war es still, und wir hörten die Mutter schluchzen und krächzen, es hörte sich an wie ein wilder Schreckens-Gesang, als sei sie von Sinnen oder als habe sie sich verletzt. Seltsamerweise passte das alles aber noch zu den lauten Akkorden und Tönen, es klang wie eine zweite, andere Musik, wie eine Musik des Teufels, die sich jetzt unaufhaltsam ihren Weg durch die Engelsklänge bahnte, um sie zu vernichten.
    Vater stand sofort auf und gab mir ein deutliches Zeichen, dass ich auf meinem Platz in der Küche bleiben solle, es war klar, ich sollte das Schreckliche nicht sehen, auf keinen Fall. Einen Moment kämpfte ich mit mir, ob ich wirklich in der Küche bleiben sollte, dann aber stand ich auf und ging vorsichtig in den Flur, wo ich mich an der Wand entlang bis zur Tür des Esszimmers drückte. Einen kurzen Blick wollte ich hineinwerfen, nur eine Sekunde, sie konnten mich doch nicht so ausschließen, nein, warum ließen sie mich denn einfach sitzen?
     
    Nie habe ich etwas Schrecklicheres zu sehen bekommen. Mutter saß noch auf dem Klavierhocker, hatte ihn jedoch weit vom Klavier weggeschoben. Mit dem Kopf tief nach unten saß sie zusammengekrümmt und heftig weinend da, während Vater sie zu halten und an sich zu ziehen versuchte. Er bewegte sich nicht, sondern hielt nur ihre Schultern und presste sie unbeholfen, sein Gesicht war starr, wie versteinert, er mahlte mit den Zähnen und hielt die Lippen fest aufeinandergepresst, der Blick aber richtete sich nicht auf Mutter, sondern ging hoch hinauf an die Decke. Mit aller Macht versuchte er sich zu beherrschen, vor lauter Anstrengung traten die Adern an den Schläfen hervor, hellrote Rinnsale waren es, die das glatte Gesicht plötzlich furchten und rapide altern ließen. Warum schreit er bloß nicht?, dachte ich, er soll schreien, Vater, so schrei doch endlich, schrei, so laut Du kannst!
    Ich spürte, wie mir eiskalt wurde, ich konnte mich nicht mehr bewegen, aus einem Traum-Schloss war ich in einen düsteren Film geraten, ein fremder Horror hatte von meinen Eltern Besitz ergriffen und sie waren nun nicht mehr zu retten. Ich konnte nicht länger im Flur stehen bleiben und mich verstecken, ich musste ihnen jetzt helfen, deshalb atmete ich tief durch und ging dann auf sie zu, ohne irgendeine Idee zu haben, was ich hätte tun können. Dicht vor ihrer Zweiergruppe blieb ich stehen und ließ die Arme hängen, ich wagte es nicht, sie zu berühren, als könnte ich ihnen etwas antun oder als würde mich ihr Kummer ebenfalls derartig erschrecken wie sie.
    Das Einzige, was mir vorläufig zu tun blieb, war, ganz in ihrer Nähe darauf zu warten, dass sich ihr Zustand besserte. Ich konnte Mutters Gesicht in der aufgelösten Haarflut nicht erkennen, daher blickte ich zu Vater hinauf und sah, dass seine versteinerte Miene sich wahrhaftig langsam wieder belebte. Er hatte es anscheinend geschafft, er war über den Berg, und dann sah ich, dass er sich wieder bewegte und Mutter mit einer kalkweißen Hand übers Haar strich, immer wieder. Dann aber tastete sich diese Hand bis zu seiner Hosentasche vor und zog aus ihr ein Taschentuch, zum Glück hatte Vater immer große Stoff-Taschentücher dabei, er benutzte sie ganz selten, steckte aber an jedem frühen Morgen ein neues ein.
    Seine Hand zitterte noch ein wenig, als er Mutter dieses Taschentuch hinhielt, direkt vor meinen Augen, nur wenige Zentimeter von mir entfernt, sah ich dieses zitternde Vater-Taschentuch, es war eine Geste, die mir einen Stich versetzte und mich zugleich so sehr rührte, dass ich fast auch zu weinen begonnen hätte. Dabei begriff ich nicht, was da vor mir geschah. Warum hatte Mutter so plötzlich zu weinen begonnen, und warum wurden meine Eltern von der Musik so gepackt? Sie hatten doch auch sonst immer Musik gehört, Musik aus dem Radio, Musik in der Kirche! Nie aber hatte ich sie bei derartigen Anlässen weinen sehen. Ich vermutete, es musste etwas mit der

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