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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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wie ein Gespräch mit dem Instrument, und in besonderen Momenten kombinierte ich das Spiel auf den Tasten sogar mit den Griffen ins Innere des Instruments. Ich spielte dann stehend, mit der linken Hand in der Tiefe des Kastens, mit der rechten auf der Tastatur.
    Jahrzehnte später habe ich einmal ein Konzert mit Keith Jarrett erlebt, der seinen Auftritt ebenfalls im Stehen begann, eine Hand zupfte an den Saiten des Flügels, die andere begleitete auf der Tastatur. Ich schloss die Augen und glaubte plötzlich, das kleine Kind, das ich einmal war, spielen zu hören. Ich weiß noch, wie mir ganz heiß wurde, es war ein heftiger emotionaler Schub, der mich plötzlich wieder in die Kindheit versetzte. Einen Moment lang hatte ich sogar Angst, wieder die Sprache zu verlieren. Ich musste aufstehen und das Konzert sofort verlassen, ich floh geradezu auf und davon, obwohl ich mich monatelang auf nichts so sehr gefreut hatte wie auf dieses Konzert.
    Erst heute ist mir klar, wie ideal das Klavierüben damals für mich war. Es bedeutete das Ende der langweiligen, vertrödelten Stunden auf dem Kinderspielplatz und den Anfang eines straffen Übungs-Programms, dessen Erfolge deutlich zu erkennen waren. Zwei Stunden am Vormittag und zwei am Nachmittag – das war keine Qual, sondern es war die wichtigste und schönste Zeit des Tages für mich.
    Hinzu kam, dass ich sehen und erleben konnte, wie sehr die Eltern sich über meine Leistungen freuten. Manchmal war Mutter von ihnen sogar so begeistert, dass sie während meiner Improvisationen aus einem anderen Raum der Wohnung in das Esszimmer kam, eine Weile zuhörte und irgendwann zu klatschen begann. Mutter klatschte! Mutter lächelte! Hatte ich bisher jemals erlebt, dass sie sich so über mich freute und dass sie so einverstanden mit dem war, was ich tat?
    Ich war nicht länger ein kleines, wenig beachtetes Etwas, nein, ich war nun ein Klavierspieler, der das fehlende Sprechen durch das Klavierspiel ersetzte und sich mit Hilfe dieses Spiels auszudrücken versuchte. So rückte das Musizieren an die Stelle des bisherigen Sprachunterrichts, das aber hatte Konsequenzen vor allem für eine Person, mit der ich mich bis dahin nicht hatte anfreunden können.
     
    Es handelte sich dabei um die Sprachlehrerin, die einmal in der Woche erschien. Wenn sie klingelte, gingen Mutter und ich keineswegs sofort zur Tür, sondern taten erst so, als hätten wir das Klingeln nicht gehört. Wenn die fremde Person dann aber wahrhaftig in der Tür stand, würdigte ich sie nur eines kurzen Blicks und zog mich dann sofort, ohne ihr die Hand zu geben oder sie auf eine andere Art zu grüßen, in das Wohnzimmer zurück.
    Ich setzte mich auf den Sessel schräg vor das Fenster und wartete, bis sie hereinkam, sie musste den ganzen Weg durch das Wohnzimmer zurücklegen, ohne dass ich ihr entgegengekommen wäre. Vor meinem Sessel machte sie halt und schaute mich lächelnd an, ich ahnte bereits, dass sie als Erstes Heute habe ich Dir etwas besonders Schönes mitgebracht sagen und dann irgendeinen Gegenstand aus ihrer Tasche ziehen würde. Zunächst aber ging sie tief in die Hocke und blickte mich ein wenig von unten her an, manchmal konnte ich riechen, was sie am Abend zuvor alles gekocht und gegessen hatte, dann roch sie nach Zwiebeln oder Gemüse oder sogar nach Fisch.
    Die Gegenstände, die sie anschleppte, waren meist Spielsachen, die sie in einem Kindergarten aufgegabelt hatte, das habe ich aus dem lustigen Kindergarten mitgebracht, von dem ich Dir schon so viel erzählt habe , sagte sie oft. Ich wusste aber genau, dass sie immer wieder vom Kindergarten sprach, weil sie alles darauf anlegte, mich in den Kindergarten zu bringen, jedes Mal sprach sie davon und von den anderen lieben Kindern, die es dort gebe, und davon, welchen Spaß es allen mache, in diesem Kindergarten miteinander zu spielen.
    Sie fragte mich aber nie ganz direkt, ob ich einmal mitkommen wolle, sondern nahm meist den kleinen Teddy, den sie aus dem Kindergarten mitgebracht hatte, in die Hand, um mit ihm zu besprechen, was im Kindergarten so alles los war. Dabei redete sie mit zwei Stimmen, mit der Stimme des Teddys und mit ihrer eigenen, wie gefällt es Dir denn so im Kindergarten, lieber Teddy?, begann sie, und dann redete der Teddy so, wie die anderen Kinder auf dem Kinderspielplatz redeten, genau so albern und aufdringlich, bis es mir einfach zu bunt wurde, und ich mich von meinem Sessel herabgleiten ließ, um mich in eine andere Ecke des Zimmers

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