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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Abend meines ersten Klaviertages räumte ich all meine Spielsachen hinter den Vorhang im Flur und verstaute sie in den hellen Holzregalen. Nur mit meinen Zeitschriften würde ich mich noch weiter beschäftigen, sonst aber würde es für mich nichts anderes mehr geben als das Klavierspiel.
    Dieses Spiel bedeutete die Befreiung und das Ende der demütigenden Tage, an denen ich mich allein im Flur der Wohnung herumgetrieben hatte und in den Läden und Geschäften in der Umgebung verhöhnt oder auf dem Kinderspielplatz ins Abseits abgeschoben worden war. Endlich wusste ich, wie ich aus dem Idiotendasein herausfinden konnte, endlich hatte ich einen konkreten Plan mit einem festen Ziel: Ich wollte ab jetzt morgens und nachmittags üben, ich wollte beweisen, dass auch ich etwas konnte, ich wollte ein guter Klavier- und später vielleicht sogar ein noch besserer Orgelspieler werden.

7
     
    ICH HABE meine Mutter erst sehr viel später wieder richtig spielen hören, zunächst aber wurde sie meine erste Klavierlehrerin. Man muss sich das vorstellen: Mutter und Sohn sitzen vor einem Klavier und erforschen, ohne miteinander sprechen zu können, gemeinsam das Instrument.
    Es begann damit, dass der Deckel des dunkelbraunen Gehäuses aufgeklappt wurde. Von oben war die gesamte Mechanik zu sehen: die weißen Filzhämmer, die straff gespannten Saiten. Man konnte an ihnen zupfen oder die Filzhämmer auf die Saiten prallen lassen, man konnte mit allen fünf Fingern an ihnen entlangstreichen und ein rauschendes Glissando erzeugen, man konnte aber auch mit beiden Händen wild in die Saiten greifen, um einige ekstatisch wirkende Tonfolgen zu erfinden. Das Innere des Klaviers ähnelte einem kleinen Orchester, das toben und rauschen und in dem man mit immer heißer werdenden Fingern eine freie Komposition spielen konnte.
     
    Viel schwieriger waren dagegen die Fingerübungen, mit denen wir auch sofort begannen. In den ersten Unterrichts-Monaten lernte ich keine Noten, sondern spielte immer wieder die kurzen Phrasen und Melodien nach, die Mutter mir vorspielte. Zunächst waren es kleine Motive für die rechte, dann Bassübungen für die linke Hand, nach etwa einem Monat spielte ich mit beiden Händen zugleich.
    Ich begriff sofort, dass es darum ging, sich die Motive und Phrasen gut einzuprägen und sie dann wieder und wieder zu spielen, zuerst im Zeitlupentempo, allmählich dann immer schneller, jedoch immer so, dass man die Bewegung der Finger noch kontrollieren konnte. Schluderte ich und spielte zu schnell, zog Mutter meine Hände abrupt von der Tastatur zurück und spielte die jeweilige Passage noch einmal in langsamem Tempo.
    Es war ein hartes, große Geduld erforderndes Training, ja es war eine Art Sport, der darauf zielte, jeden einzelnen Finger zu kräftigen und ihm zu immer schnellerer und leichterer Bewegung zu verhelfen. Mit der Zeit hörte ich mit diesem Training auch in den Stunden abseits vom Klavier nicht mehr auf. Ich ertappte mich dabei, dass ich während des Zeitschriften-Blätterns die Finger bewegte, ja ich trommelte manchmal sogar während des Essens mit den Fingern rasch auf der Stelle, als wäre ich ununterbrochen im Einsatz.
     
    Erst später begriff ich, dass Mutter ihrem Unterricht die Fingerübungen von Czerny zugrunde gelegt hatte. Aus diesem Lehrbuch stellte sie ein kleines Übungsprogramm zusammen, ohne sich an die von Czerny empfohlene Reihenfolge zu halten. Ich kann mich jedoch nicht erinnern, diese Noten in den ersten Monaten des Unterrichts jemals gesehen zu haben, nein, es gab keine Noten, Mutter hielt sie vor mir verborgen, erst Jahre später entdeckte ich sie mit vielen Anstreichungen und eigens von Mutter zusammengestellten Listen.
     
    Neben dem Üben der kleinen Stücke war meine größte Freude aber das freie Spiel. Das freie Spiel fand nach den Übungseinheiten statt und bot mir die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren. Ich konnte eigene, kleine Melodien erfinden und mir meine eigenen Stücke basteln, ich konnte tun und lassen, was ich wollte, niemand redete mir drein, auch Mutter nicht, die sich zurückzog, wenn ich mit diesem Improvisieren begann.
    Oft nahm ich mir dafür mehr Zeit als für das eigentliche Üben, und ich glaube noch heute, dass eine tief sitzende Infektion durch Musik weniger durch manisches Üben als durch Improvisieren geschieht. Das Improvisieren machte mich ohne Befehle und Regeln mit dem Klavier vertraut und sorgte für einen starken, emotionalen Kontakt. Meist verlief es

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