Die Erfindung des Lebens: Roman
deshalb nicht auffiel, weil Vater sich stundenlang mit anderen Menschen unterhielt und Mutter so viel und so hart zu arbeiten hatte, dass sie zumindest für einige Zeit einmal vergaß, nach mir zu schauen.
Die weiten Wiesen am Fluss – sie waren mein erstes großes Freiheits-Revier, das ich als einziges einmal allein durchstreifen durfte, ohne mich immer wieder bei den Eltern melden zu müssen. Meist lief ich hinunter zum Wasser und streunte dann langsam durch die hohen Schilfgräser an ihm entlang, manchmal stiegen kleine Vogelschwärme zu beiden Seiten des Flusses auf und kreisten kurze Zeit über ihm. Am schönsten aber war es, wenn ein Fischreiher ganz in meiner Nähe aufstieg und dann langsam den Fluss entlangsegelte.
Ich liebte die grauen, meist allein in den niedrigen Gewässerpartien auf Fische wartenden Reiher von allen Vögeln am meisten. Oft stand ich lange Zeit still, um sie genauer zu beobachten, wie sie regungslos vor sich hin sinnierten, um dann ganz plötzlich aufzusteigen und in einem mir unendlich lang und kunstvoll erscheinenden Gleitflug das Wasser entlang zu segeln.
Hatte ich das weite Gelände an einem Ufer durchstreift, machte ich kehrt, zog die Schuhe aus und legte den Rückweg mit bloßen Füßen im Wasser zurück. Das Wasser war sehr niedrig und klar, und in der Mitte des Flusses lauerten zwischen den dickeren Steinen manchmal seltsame Fische, deren Namen ich nicht kannte. Die kleineren und die sehr kleinen Fische zogen in Schwärmen in der Nähe des Ufers entlang und hielten sich vor allem in den Schilfzonen auf, so dass ich, um sie noch genauer beobachten zu können, die Schilfgräser vorsichtig beiseite bog und mir einen Pfad durch das dunkle Grün bahnte. Näherte ich mich dann wieder der Gastwirtschaft, geriet ich allmählich in die lautere Zone der Badenden, bis zu denen ich aber meist nicht mehr vordrang.
Ich wünschte mir jedoch sehr, schwimmen zu können, denn dann wäre ich einfach zum anderen Ufer hinübergeschwommen, oder ich hätte sehr tief getaucht, um in der Tiefe des Flusses und damit in seinen dunkelsten, schattigsten Zonen für eine kleine Weile ganz und gar zu verschwinden und vollständig unsichtbar zu werden.
9
SO VERGINGEN die Tage, bis ein Brief der Schulbehörde eintraf, in dem nicht nur der Tag und die Stunde des Schulbeginns angegeben, sondern darüber hinaus noch genau vermerkt war, was ich als zukünftiges Schulkind am ersten Schultag mitbringen sollte. Vater las mir diesen Brief in der Küche vor und legte ihn danach in eine Schublade des Küchenbüfetts, während Mutter sich das alles nicht einmal anhörte, sondern die Küche verließ, als ginge sie das nichts an.
Ich selbst aber begann über die Schule nachzudenken. Eher nebenbei hatte Vater erklärt, dass jedes Kind die Volksschule besuchen müsse und dass meine Schule nicht weit entfernt liege, höchstens zehn Minuten zu Fuß. In der Volksschule, hieß es weiter, lerne jedes Kind Lesen, Schreiben und Rechnen und noch einige andere nützliche Dinge, auch ich werde das alles lernen, und das Lernen werde mir außerdem Freude machen und mich ganz nebenbei mehr unter Kinder bringen. Das aber sei unbedingt notwendig, damit ich nicht zum Eigenbrötler oder sogar zum Außenseiter werde, ich müsse lernen, mit anderen Menschen gut auszukommen, ich müsse Freunde und Weggefährten gewinnen, was in der Schule nicht schwer sei, da es in der Schule immer ein paar Mitschüler gebe, mit denen man sich gut verstehe.
»Weggefährten«? Ich sollte »Weggefährten« gewinnen? Ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte. Wie sollte ich mich zum Beispiel mit den Mitschülern verständigen, wenn ich doch gar kein Wort sprach? Wie sollte ich überhaupt am Unterricht teilnehmen? Und was sollte ich, einmal angenommen, ich würde »Weggefährten« gewinnen, mit ihnen anstellen, wenn sie nicht einmal Klavier spielen konnten? Bedeutete, »Weggefährten« zu gewinnen und mit ihnen Zeit zu verbringen, also nicht einen Rückschritt in die längst überwunden geglaubten Zeiten auf dem Kinderspielplatz, ja war die Schule insgesamt nicht ein einziger Rückschritt?
Ich hatte Mutter im Verdacht, dass sie ganz ähnlich dachte, denn sie kümmerte sich auffallend wenig um das Thema Schule. Ich selbst aber öffnete jeden Tag heimlich die Schublade des Küchenbüfetts, um nach dem Brief der Schulbehörde zu schauen und immer wieder festzustellen, dass er jeden Tag an derselben Stelle lag, wie eine versteckte Bombe, die irgendwann
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