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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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wirklich stehen geblieben, so wie ich kurz vor dem Schuleingang stehen geblieben war, und nun schauten wir nacheinander, wie wir das ganze bisherige Leben nacheinander geschaut und aufeinander aufgepasst hatten.
     
    Da wusste ich, dass ich die Schule nicht betreten, sondern am liebsten ein Leben lang bei meiner geliebten Mutter bleiben würde, um weiter auf sie aufzupassen. Und so machte ich kehrt und verließ den Schulhof. Als ich aber wieder außerhalb, auf der Straße, stand, sah ich, dass sie mir entgegenkam, um mich wieder einzusammeln und mitzunehmen, in das Haus am großen, ovalen Platz.

10
     
    MEINE SCHÖNE Mutter! Beinahe sechs Jahre waren wir ununterbrochen zusammen gewesen und hatten uns kaum einmal für einige Stunden getrennt! Wie sollten wir es da von einem Tag auf den andern schaffen, verschiedene Wege zu gehen? Wir gehörten so eng zusammen, dass wir uns blind verstanden, der eine war die Ergänzung und der Spiegel des anderen, damals waren wir nicht im Geringsten darauf vorbereitet, Stunden oder vielleicht sogar ganze Tage an verschiedenen Orten zu verbringen.
    Noch heute habe ich unzählige, mich immer noch rührende Bilder dieser frühen gemeinsamen Kinderjahre im Kopf: Wie Mutter Levkojen oder Lupinen in Vasen steckte und in jedem Zimmer einen Strauß aufstellte! Wie wir vom Wochenmarkt heimkamen und das gekaufte Obst und Gemüse auf dem Küchentisch auspackten! Wie wir uns Bücher aus der Bibliothek ausliehen und am frühen Morgen oft noch etwas Zeit mit ihnen im Elternbett verbrachten, um zu blättern, zu lesen und Tee zu trinken!
     
    Später, als es uns beiden wieder besser ging, hat sie mir einmal erzählt, wie sie in diesen stummen Jahren erst langsam wieder genesen ist. Jeden Abend hat sie notiert, wie es um sie stand, sie hoffte so sehr, irgendwann einmal wieder sprechen zu können, aber es ging lange Zeit nicht voran, sondern auf und ab, so dass auf Tage der Besserung immer wieder Abstürze folgten. Die aber hielt sie, soweit es möglich war, vor mir geheim, ich sollte ihre Zusammenbrüche und ihre Trauer nicht mitbekommen, und das ist ihr auch gelungen: Ich bekam von alledem kaum etwas mit, ahnte aber doch, dass sie etwas Schlimmes vor mir verbarg.
    Deshalb gingen wir in all diesen frühen Jahren sehr vorsichtig und liebevoll miteinander um. Selbst bei Kleinigkeiten haben wir einander geholfen, als wäre es ganz selbstverständlich, dass wir alles zu zweit machten. Zu zweit einkaufen, spazieren gehen, kochen, aufs Land fahren, zu zweit, immer alles zu zweit! Selbst unsere Kleidung war aufeinander abgestimmt, so dass es häufig vorkam, dass Mutter mich mit vor den großen Ankleidespiegel nahm und wir uns dann nebeneinander postierten wie für eine Fotografie: Das Duo Mutter und Sohn!
    Weder sie noch ich dachten damals über die Gefahren nach, die ein so enges Zusammensein mit sich brachte: Dass jeder von uns kaum noch selbständig handeln und leben konnte, dass wir eine abnorme Angst davor hatten, für Stunden ohne den anderen zu sein. Uns beiden fehlte die Kraft, voneinander zu lassen, das weiß ich heute genau, und ich weiß auch, dass wir es niemals geschafft hätten, uns zumindest ein wenig voneinander zu lösen, wenn mein Vater das jahrelange Schweigen über die dunkle Vergangenheit nicht endlich gebrochen hätte. Ich glaube, er hat sich das nicht vornehmen müssen, sondern es instinktiv und aus Not heraus getan. Die erste Mitteilung, die ich von den Katastrophen im Leben meiner Eltern erhielt, erfolgte nämlich am Abend des ersten Schultages, der mit der vorzeitigen Rückkehr von Mutter und Sohn in unsere Wohnung endete.
     
    Den ganzen restlichen Tag bis zum Abend verbrachten wir damals in dieser Wohnung, als trauten wir uns nicht mehr, auch nur noch einen einzigen Schritt vor die Türe zu gehen. Ich übte Klavier, und Mutter schrieb eine längere Mitteilung, die sie dann auf das Küchenbüfett legte. Für diese Notiz waren die sonst benutzten Zettel anscheinend zu klein, denn diesmal verwendete sie große Briefbögen, die sie sonst nur für die Briefe an ihre Schwester benutzte. Am Nachmittag legte sie sich dann etwas hin, als wäre sie sehr erschöpft, während ich mich auf das Fensterbrett setzte und den Kindern auf dem Kinderspielplatz beim Spielen zusah. Insgeheim aber wartete ich auf Vater und darauf, was er sagen und wie er wohl reagieren würde, wenn er von dem ersten, vergeblichen Anlauf, aus mir ein Schulkind zu machen, erfahren würde.
    Endlich war es dann so weit,

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