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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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hochgehen würde. Am liebsten hätte ich ihn verschwinden lassen, denn ich fürchtete mich vor der Schule und allem, was mit ihr zu tun hatte. Hätte man mir die Wahl gelassen, hätte ich auf die Schule zugunsten des Klavierspiels verzichtet, was sollte ich mit der Schule und dem sogenannten »Ernst des Lebens« anfangen, der anscheinend nun unvermeidbar war, mir genügte zum Leben das Klavier und den Ernst konnte man sich ganz schenken, für mich jedenfalls taugte er nicht.
     
    Die Sache spitzte sich zu, als mein Vater an einem Abend sofort nach dem Betreten der Wohnung begann, den Brief der Schulbehörde zu suchen. Wo ist nur der verdammte Brief? , hörte ich ihn immer wieder rufen und weiter erfuhr ich, dass die Schule nun bald beginne und noch einiges besorgt werden müsse. Als ich Vater hörte, war ich zunächst erleichtert, endlich reagierte zumindest er, während meine Mutter nicht einmal von ihrem Lesesessel aufblickte, um bei der Suche nach dem Brief zu helfen. Wie gut also, dass ich genau wusste, wo er sich befand, er befand sich doch in der Schublade des Küchenbüfetts, ich eilte hin, nahm den Brief aus der Lade und übergab ihn dem Vater. Sofort wurde er ruhiger und setzte sich zusammen mit mir an den Küchentisch, um die Liste mit all den Sachen durchzugehen, die nun rasch gekauft werden mussten.
    Als er aber schon am nächsten Tag mit einem kleinen Haufen all der Dinge erschien, die er, wie er sagte, auf einen Schlag gekauft habe, wurde ich von einem Moment auf den anderen mutlos. Was sollte ich denn in der Schule mit all diesen Papierbögen, Buntstiften und Linealen anfangen, wenn ich kein einziges Wort sprach? All diese Dinge passten nicht zu mir, sondern zu den anderen Kindern, die sich vielleicht schon seit Wochen mit ihnen beschäftigten und sie längst ausprobiert hatten. Zu mir dagegen hätten Blätter mit Notenlinien und gut gespitzte Bleistifte für das Aufmalen von Noten gepasst, denn meine Schule war das Klavierspiel. Ich gab aber nicht zu erkennen, was mir durch den Kopf ging, sondern nahm die frisch gekauften Gegenstände nacheinander kurz in die Hand, als zeigte ich für sie zumindest ein wenig Interesse. Mutter jedoch hatte, wie ich genau bemerkt hatte, sofort nach dem Auspacken der Dinge die Küche verlassen und keinen einzigen Blick auf die neuen Sachen geworfen. Ich glaubte daher genau zu wissen, was sie dachte, sie dachte dasselbe wie ich, sie dachte, dass die Schule für einen wie mich nicht das Richtige sei.
    Am nächsten Morgen verabschiedete sich Vater von mir mit der feierlichen Mitteilung, dass er mich nicht zur Schule begleiten könne, Mutter, hieß es weiter, werde mich zur Schule bringen, und Mutter werde mich an meinem ersten Schultag auch wieder von dort abholen.
    Mein Vater trug das alles sehr schnell und bestimmt vor, er schien nicht im Geringsten daran zu zweifeln, dass ich mich, wie er auch noch gesagt hatte, in der Schule gut einleben werde. Gut einleben – sollte das etwa heißen, dass ich in der Schule eine Zeit lang richtig leben sollte, stunden- oder vielleicht sogar tagelang? Was aber würde in all diesen vielen Stunden geschehen, und wie wäre diese Unmenge an Stunden mit den Stunden vereinbar, die ich jeden Tag am Klavier zubrachte?
    Als Vater verschwunden war, streifte Mutter mir den dunkelbraunen Ranzen über, in dem sich all die Dinge befanden, die ich in der Schule brauchte, dann zog sie einen der schönsten Mäntel an, die sie besaß. Das alles hätte mich durchaus beruhigen können, weil der schöne Mantel den Eindruck erweckte, dass auch die Schule etwas Schönes und Freundliches war, stattdessen aber steigerte sich meine Unruhe durch eine andere kleine Geste, die Mutter bisher noch nie gemacht hatte.
    Wenige Sekunden vor Verlassen der Wohnung nämlich standen wir beide vor dem großen Ankleidespiegel im Flur und blickten hinein, als Mutter sich plötzlich bekreuzigte. Ich sah genau, wie sie langsam das Kreuz schlug, als stünde uns etwas Unangenehmes oder sogar Furchtbares bevor. Von genau diesem Moment an bekam ich es mit der Angst zu tun. Vielleicht war die Schule gar nicht etwas Harmloses und Kinderspielplatz-Ähnliches, vielleicht bekam man es dort mit allerhand feindlichen oder gar bösen Mächten zu tun, gegen die nur viele Gebete halfen?
    Das Sich-Bekreuzigen der Mutter ließ mich jedenfalls glauben, dass die Schule nichts Heiteres, sondern wahrhaftig etwas durch und durch Ernstes war, schließlich bekreuzigte man sich während des

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