Die Erfindung des Lebens: Roman
Firma, die meinem Großvater gehörte und in dem noch zwei Brüder meiner Mutter arbeiteten. Das Geschäftshaus war ein Haus mit vielen Büros und einer Lagerhalle, laufend kamen die Bauern aus der Umgebung, um dort Öl, Kohlen, Briketts, Samen und Dünger zu bestellen.
Im Wohnhaus der Großeltern war immer viel los, denn hier lebten auch noch eine Schwester meiner Mutter und ihr Sohn, außerdem aber kamen immer wieder die beiden im Geschäft des Großvaters mitarbeitenden Brüder der Mutter vorbei und saßen beinahe zu allen Mahlzeiten mit am Tisch. Immerzu klingelte es, dann eilte die Großmutter zu einem kleinen Fenster in der Küche und streckte den Kopf hinaus, während unten eine Bekannte oder ein Bekannter standen, um sich kurz mit ihr zu unterhalten.
Beinahe alle Menschen im Ort kannten die Großmutter, jedenfalls wurde sie ununterbrochen gegrüßt, wenn man mit ihr durch den Ort ging, noch lauter und häufiger aber wurde der Großvater gegrüßt, der ein in der gesamten Gegend bekannter Kaufmann mit festen politischen Ansichten und Meinungen war. Natürlich kannten die meisten Dorfbewohner auch meine Mutter, sie wurde aber viel vorsichtiger und leiser gegrüßt als ihre Schwester oder ihre Brüder. Mutter nickte in solchen Fällen mit dem Kopf oder machte eine kurze winkende Bewegung mit der Hand, sie blieb aber nicht gern auf der Straße stehen, sondern lief wie auch in Köln meist eilig von einem Geschäft zum andern.
Sonst aber erlebte ich sie auf dem Land ganz anders als sonst. Sie arbeitete viel in der Küche und half der Großmutter beim Kochen, ja sie bewegte sich überhaupt den ganzen Tag durch das Haus oder im Garten und ging alle paar Tage mit mir in die kleine Bibliothek nahe der Kirche, wo ich mir jedes Mal einige Kinderbücher ausleihen durfte. Bei solchen Besuchen hatte ich bald begriffen, dass sie einmal in dieser Bibliothek gearbeitet hatte, die jungen Bibliothekarinnen sprachen jedenfalls oft von dieser Zeit, und neben dem Eingang hing sogar eine Fotografie meiner Mutter, auf der sie in einem langen schwarzen Kleid gerade die Bibliothek verließ, einen kleinen Stapel mit Büchern in der rechten Hand.
Wenigstens ein kleines Detail aus der dunklen Vergangenheit war so erhellt, Mutter hatte früher mit Büchern zu tun gehabt, so viel war immerhin klar. Wie aber weiter? Ich ahnte, dass es in dem kleinen Ort viele Menschen gab, die mir mehr hätten erzählen können, aber ich konnte ja niemanden fragen, und von sich aus erzählte mir keiner etwas. Kam während der Mahlzeiten im Großelternhaus das Gespräch auf die Vergangenheit, so erstarb das Gespräch schon nach wenigen Worten. Nicht selten sagte die Großmutter den merkwürdigen Satz Das Kind sitzt am Tisch, und dann schauten alle mich an und schwiegen von einem Moment auf den anderen, als wollten sie bestimmte Geheimnisse ganz unbedingt für sich behalten und mir um keinen Preis davon erzählen.
Ich mochte meine Großmutter sehr, aber der Satz Das Kind sitzt am Tisch gefiel mir ganz und gar nicht. Gerade die Großmutter hätte doch verstehen müssen, dass ich gerne mehr von der Vergangenheit und von dem, was die Eltern in ihr erlebt hatten, erfahren hätte. In dieser Hinsicht aber war nichts zu machen, ich kam, obwohl ich die Ohren offen hielt, einfach keinen Schritt weiter, denn alle Menschen in meiner Umgebung hielten zusammen und sprachen in meiner Gegenwart kein einziges Wort über die frühere Zeit.
Nur einen einzigen Menschen gab es, von dem ich mir in dieser Hinsicht etwas erhoffte, es war der älteste Bruder der Mutter, der Pfarrer, von dem ich bereits erzählt habe. An hohen Feiertagen bekam ich ihn manchmal zu sehen, und dann fiel mir jedes Mal auf, dass er kaum Ähnlichkeit mit der Mutter und seinen Geschwistern hatte und auch in seinem Verhalten ein ganz anderer Mensch war. Was für ein Mensch dieser Onkel aber eigentlich war, das konnte ich nur erahnen, jedenfalls war es ein ernster, kluger und besonnener Mann, ein Mann, der bei Tisch nicht viel redete, dann aber ganz unerwartet etwas Merkwürdiges sagte, das einem dann eine Weile nicht aus dem Kopf ging. Ich mochte die Art und das Sprechen dieses Onkels ganz ungemein, am liebsten hätte ich ihn gefragt, ob ich ihn nicht einmal in seinem Pfarrhaus besuchen dürfe, aber auch das war ja nicht möglich, weil ich mich gegenüber dem Onkel nicht verständlich machen konnte. Hätte ich doch wenigstens schreiben können, so wie die Mutter, auf Zetteln!
Auch im Haus der
Weitere Kostenlose Bücher