Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
Gottesdienstes auch nur, wenn es ernst oder sogar sehr ernst wurde. Zur Sicherheit schlug auch ich ein Kreuz, langsam und feierlich, dann aber öffnete Mutter die Wohnungstür, und wir gingen gemeinsam hinunter auf die Straße, wo wir sofort einer anderen Mutter mit einem Schulkind begegneten.
    An anderen, gewöhnlichen Tagen hätte meine Mutter niemals Anschluss gesucht, ja sie hätte mit dieser anderen Mutter keinen einzigen Schritt gemeinsam getan, diesmal jedoch machte sie sogar eine Bewegung auf die andere Mutter zu und gab ihr die Hand. Ich stand daneben und schaute verblüfft, zum ersten Mal erlebte ich, dass meine Mutter in Köln einem anderen Menschen die Hand gab! Dann drehte sie sich zu mir und deutete an, dass auch ich der fremden Person die Hand geben und danach auch noch das fremde Kind mit Handschlag begrüßen solle. Sah sie, wie sehr ich zitterte, als ich meine Hand ausstreckte, um ihr diesen Gefallen zu tun? Danach aber versteckte ich sie sofort wieder in meiner Manteltasche, ich begriff nicht, was plötzlich in meine Mutter gefahren war, denn wir gingen den Weg zur Schule zu viert, als wären wir schon immer mit anderen Menschen gegangen und als gehörten Mutter und ich nun doch auf irgendeine Weise zur Gemeinschaft der Sprechenden.
    Der Schulweg dauerte nur wenige Minuten und endete an einem hohen Gebäude mit vielen Fenstern und einem großen Schulhof, an dem ich schon oft vorbeigegangen war, ohne zu ahnen, dass es sich dabei um einen Schulhof handelte. Jetzt aber war das nicht mehr zu übersehen, der Schulhof war bis ins letzte Eck mit Kindern angefüllt, die auf dem Gelände hin und her eilten oder sich an den Rändern zu kleinen Gruppen zusammenballten.
    Unter all diesen vielen Kindern war die Schar der Neulinge gut zu erkennen, denn die Neulinge waren jene Kinder, in deren Nähe sich eine Mutter oder ein Vater oder manchmal auch gleich beide Elternteile befanden. Ich bemerkte, dass es den Neulingen anscheinend ganz ähnlich wie mir ging, der Schulhof war ihnen nicht geheuer, deshalb standen sie neben ihren Müttern oder Eltern still auf dem Fleck, ohne vorerst miteinander Kontakt aufzunehmen.
    Mutter und ich – wir stellten uns einfach dazu, und so warteten wir, bis die Schulglocke läutete und die etwas älteren Schüler nach und nach durch das hohe Eingangstor in die Klassenräume verschwanden. Schließlich blieben nur noch die Neulinge übrig, niemand schien sich um uns zu kümmern, die meisten waren schweigsam und wirkten bedrückt, gerieten jedoch etwas in Bewegung, als ein älterer Mann das Schulgebäude verließ und geradewegs auf uns zukam. Er stellte sich vor, er war der Direktor, er hatte sich noch um dies und das kümmern müssen, jetzt aber hatte er nur noch Augen und Ohren für die lieben Neulinge, herzlich willkommen!
    Wir mussten uns aufstellen, in Reih und Glied und zu zweit, ich schaute, ob sich jemand finden ließe, neben den ich mich hätte stellen können. Aber es kam anders und so, wie ich es beinahe erwartet hatte, denn plötzlich stand ich ganz hinten und vollkommen allein, niemand hatte sich neben mir aufgestellt, und so trottete ich denn hinter den anderen her, nachdem meine Mutter sich von mir verabschiedet hatte.
    Seit dem frühen Morgen dieses Tages hatte ich darüber nachgedacht, wie ich mich von der Mutter oder wie die Mutter sich von mir verabschieden würde. Ich hatte überlegt, ob es möglich wäre, der Mutter noch einen Kuss zu geben, auf dem Schulhof jedoch hatte sich eine derartige Frage nicht mehr gestellt, denn ich hatte schon beim ersten Betreten des Schulhofs gewusst, dass ich der Mutter auf diesem Schulhof und in Gegenwart der vielen anderen Kinder keinen Kuss geben konnte. Mutter wiederum schien das alles ganz ähnlich zu sehen, denn auch sie hatte mir zum Abschied keinen Kuss gegeben, sondern nur kurz mit der Rechten über das Haar gestrichen, um sich dann rasch von mir abzuwenden und den Schulhof zu verlassen. Ich wunderte mich etwas, wie schnell sie sich auf und davonmachte, aber ich hatte keine Zeit, lange darüber nachzudenken, weil ich den anderen Neulingen ins Schulgebäude folgen musste.
     
    Noch ein letztes Mal schaute ich mich nach der Mutter um, sie war schon ein ganzes Stück von der Schule entfernt, ich sah ihre schwarze Gestalt nun von hinten, wie sie sich langsam von der Schule fortbewegte. In genau diesem Moment aber blieb sie in der Ferne plötzlich stehen und drehte sich noch einmal nach der Schule um, ich sah es genau, Mutter war

Weitere Kostenlose Bücher