Die Erfindung des Lebens: Roman
ekstatische Kindheits-Momente: das Klavierspiel meiner Mutter und mein eigenes Spiel. Beides überlagert sich und bildet in meiner Vorstellung so etwas wie eine Art Zwangs-Hypnose: Ich höre die befreit Klavier spielende Mutter, und ich schlüpfe allmählich in ihre Rolle, in der Hoffnung, ihr Spiel noch zu übertreffen.
Wenn ich irgendwo auf einer Straße oder einem Platz plötzlich Live-Musik höre, setzt die Hypnose ein. Ich bleibe stehen, ich höre wie gebannt zu. Es kommt nicht darauf an, dass ich die Musik kenne oder dass sie besonders gut präsentiert wird, nein, es kommt auf den Klang an sich oder, einmal pathetisch gesagt, es kommt auf die Offenbarung des Klangs an. Der Alltag um mich herum tritt zurück, die Klänge beherrschen den gesamten Raum, ich stehe oder sitze da wie in Trance und empfinde das Glück der Musik.
Längst habe ich inzwischen eine eigene Rom-Karte im Kopf, meine geheime Karte der Klangräume. Wie ein Voyeur auf der Suche nach Bildern treibe ich mich, süchtig nach Tönen, in der Nähe bestimmter Häuser herum, um etwas Musik mitzubekommen. Manchmal aber ist es ganz einfach, dann wird in der Wohnung gleich nebenan Klavier geübt. Ich weiß genau, wer dort spielt. Es ist die zwölfjährige Marietta, die seit fünf Jahren Klavierunterricht hat. Einmal bin ich mit ihrer Mutter ins Gespräch gekommen und habe mich nach dem Mädchen erkundigt, daher kenne ich ein paar Details. Im Augenblick übt das Kind den ersten Satz des Italienischen Konzertes von Bach. Wenn ich Marietta üben höre, bewegen sich meine Finger manchmal mit.
Ich habe in meiner römischen Wohnung kein Instrument, aber ich denke oft daran, mir für einige Monate einen Flügel zu leihen. Ich weiß jedoch nicht genau, was dann passieren würde. Würde ich mich stundenlang an das Instrument setzen? Würde ich improvisieren oder sogar bestimmte Stücke üben? Und würde ich vielleicht aufhören, an dieser langen Erzählung zu arbeiten? Ich habe lange nicht mehr Klavier gespielt, ich habe mir das Klavierüben verboten, ich weiß nicht einmal, ob ich heute noch fähig wäre, Bachs Italienisches Konzert im richtigen Tempo fehlerfrei zu spielen. Aber über das alles später mehr.
Die ersten Folgen meiner großen Passion waren schon bald nicht mehr zu übersehen: Ich kam noch weniger als zuvor unter Leute, manchmal blieb ich sogar den ganzen Tag im Haus und verbrachte die Zeit nur mit Üben, Radiohören und dem Blättern in Zeitschriften.
Im Radio gab es spannende Kinder-Hörspiele mit Kindern, die laufend in der Stadt unterwegs, munter und gut erzogen waren und trotzdem ein kleines Abenteuer nach dem andern erlebten. Die meisten Abenteuer spielten auf Ruinengeländen, wie es sie entlang der langen Einkaufsstraße auch in unserem Viertel noch gab. In den dunklen Ruinen kletterten die munteren Radio-Kinder herum, bauten sich Geheimverstecke und führten Bandenkämpfe gegen die Kinder eines anderes Ruinengeländes, die meist eine Spur bösartiger und ungezogener waren. Die dreißigminütigen Hörspiele waren eine Vorform des Fernsehens, das es damals erst in wenigen Haushalten gab: Man saß versunken und stumm vor dem alten Radiokasten, während im Kopf ein Schwarz-Weiß-Film mit einigen Rissen und Sprüngen entstand.
Weil die Eltern fürchteten, ich könne mit der Zeit vereinsamen (ich habe noch genau meinen Vater im Ohr, wie er zu meiner Mutter sagt Das Kind vereinsamt ja, das Kind vereinsamt , zweimal hintereinander und in einem Tonfall, als wäre die Vereinsamung längst passiert und als könnte man kaum noch etwas dagegen tun) …, weil also anscheinend die Vereinsamung eine große Gefahr darstellte, fuhren wir von nun an häufiger als zuvor auf das Land. Ich mochte diese kurzen Reisen, die aus einer einstündigen Zugfahrt entlang der Sieg nach Osten bestanden, sehr. Schon nach wenigen Minuten blieben die Häuser und Straßen Kölns zurück, und eine weite Ebene tat sich hinter den Zugfenstern auf, die dann allmählich überging in eine leicht hügelige Landschaft: Seen, Wiesen, Felder und entlang der gesamten Bahnstrecke der Fluss, der sich zwischen den Hügeln und Höhen hindurch wand.
In der kleinen Ortschaft unseres Zielbahnhofs wohnten die Großeltern, die Eltern meiner Mutter und die meines Vaters. Vom Bahnhof aus waren es zu den mütterlichen Großeltern nur wenige Schritte, ihr großes Wohnhaus stand mitten im Ort, nahe der alten Dorfkirche, und direkt neben dem Wohnhaus gab es das Geschäftshaus einer
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