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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Großeltern beschrieb Mutter nämlich ihre Zettel, hier waren es rechteckige, große aus dem Geschäft des Großvaters, auf denen bereits all die Waren aufgedruckt waren, die man dort kaufen konnte. Mutter schrieb über dieses Aufgedruckte einfach hinweg, und wie in Köln legte sie die voll geschriebenen Zettel zum Lesen hin. Seltsam war nur, dass die Großmutter und die anderen Geschwister meistens längst wussten, was Mutter geschrieben hatte. Sie warfen einen kurzen Blick auf die Zettel, und dann sagten sie Ja, da hast Du recht oder Ja, das hab ich mir schon gedacht. Was aber hatten sie sich gedacht? Und worin hatte die Mutter recht?
    Manchmal war ich darüber verzweifelt, von alldem nichts mitzubekommen und derart von allen Geheimnissen ausgeschlossen zu sein. Wenn das Ausgeschlossensein besonders wehtat, stieg ich nach oben, in den zweiten Stock des Großelternhauses. Auch die Großeltern besaßen nämlich ein altes Klavier, es stand in einem halbrunden Raum mit Blick auf die Kirche, den alle nur das Musikzimmer nannten. Im Musikzimmer gab es außer dem Klavier, zwei Sesseln und einem Tisch keine Möbel, anscheinend suchte außer mir keiner das Klavierzimmer auf, denn von den Verwandten der Mutter spielte niemand Klavier. Ich setzte mich an das alte, verstimmte Instrument, schlug den Deckel auf und spielte so lange, bis sich Mutter aus der Stille des Hauses heraus näherte, auf ganz leisen Sohlen.
     
    Spielten wir beide im Haus der mütterlichen Großeltern die Rolle eines Paars, dem viel Fürsorge galt, so wurden wir im väterlichen Großelternhaus schon wenige Minuten nach unserer Ankunft kaum noch wahrgenommen. Das Haus der Eltern des Vaters war nämlich kein einzelnes Wohnhaus, sondern ein großer Bauernhof mit einer an seine Gebäude und Stallungen angeschlossenen Gastwirtschaft. Der große Hof und die Gastwirtschaft lagen direkt an einem schmalen Fluss, der im Heimatdorf der Eltern in die Sieg mündete.
    Weil Bauernhof und Gastwirtschaft an einem Fluss lagen, kamen an schönen Tagen viele Menschen, um im Garten der Gastwirtschaft etwas zu trinken oder zu essen und später im Fluss zu schwimmen oder mit einem Kahn auf ihm zu fahren. Manchmal war dann die Menschenmenge, die sich rund um die Gastwirtschaft aufhielt, kaum noch zu übersehen, und es herrschte ein derartiges Treiben, dass die Eltern und ich in der großen Menschenmenge überhaupt nicht mehr bemerkt wurden. Niemand starrte mich an, niemand machte ein grüblerisches Gesicht, um anzudeuten, welche Sorgen er sich um meine weitere Entwicklung machte, ja viele Gäste wussten nicht einmal, wer genau ich denn nun eigentlich war.
    Das kam daher, weil mein Vater zehn Geschwister hatte, von denen sich viele dann und wann in der Gastwirtschaft und auf dem Hof aufhielten. Die meisten dieser zehn Geschwister des Vaters hatten aber selbst wiederum Kinder, was alles derart durcheinanderbrachte, dass auch ich nicht mehr wusste, ob ich in der großen Menschenmenge gerade einem nahen oder entfernten Verwandten oder nicht doch einem Fremden begegnete. All die vielen Menschen waren nicht zu unterscheiden, und so kam es immer wieder vor, dass ich mit einem falschen Namen angeredet wurde, weil man mich mit irgendeinem Cousin oder auch einem anderen, mir völlig fremden Jungen verwechselte.
     
    Das alles machte mir aber nicht das Geringste aus, im Gegenteil, nichts war ja angenehmer als verwechselt oder gar nicht angesprochen und somit in Ruhe gelassen zu werden. Kleinere Kinder wie ich kamen auch nicht für das Helfen in der Gastwirtschaft in Frage. Mich übersah man einfach den größten Teil des Tages, während Mutter und Vater, sobald sie auf dem Hof und in der Gastwirtschaft angekommen waren, in der Küche oder beim Bedienen im Garten mithelfen mussten. Mutter verschwand denn auch immer sofort in der großen Wirtshausküche, während sich der Vater beim Bedienen nützlich zu machen versuchte, was aber meist so komisch und kurios wirkte, dass seine Geschwister ihn schon bald drängten, das Bedienen der Gäste sein zu lassen und sich einfach zu einer Runde an den nächstbesten Tisch zu setzen, um dort für Unterhaltung zu sorgen.
     
    Nirgends sonst auf der Welt ließ man mich also derart gewähren und tun, was ich wollte, wie auf diesem grünen, sich mit weiten Wiesen und mächtigen Bäumen an dem schmalen Fluss entlang erstreckenden Gelände, es war jenes Gelände, auf dem ich mich am weitesten von den Eltern entfernte und auf dem die Entfernung vor allem

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