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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Klavier setzte, das sich in einem Winkel eines Gastraums befand. Das Klavier hatte mein damals bereits verstorbener Großvater einmal gespielt, alle, die mich üben sahen, sagten mir das und erzählten von ihren Erinnerungen: Wie der meist gut gelaunte, lebenslustige ältere Mann mit seinem dunklen Schnauzer am Klavier gesessen und die Gäste unterhalten habe, stundenlang, ohne die Kenntnis einer einzigen Note.
    Zwei oder drei Stunden übte auch ich jeden Morgen, ohne dass es jemanden störte. Am Morgen waren noch keine Gäste da, der Morgen war die Zeit der Vorbereitung der Mahlzeiten und der kleinen Reparaturen und Instandsetzungen im Haus und draußen, im Garten, zu all diesen Tätigkeiten passte mein Üben, auch dieses Üben war schließlich nichts anderes als eine Vorbereitung und ein Training für Größeres. Und so arbeitete in der Früh die ganze Hofgemeinschaft, und ich hatte das Gefühl, meinen Teil zu dieser Arbeit beizusteuern. Dabei wurde ich nicht einfach nur geduldet, sondern wirklich gemocht, niemand sprach von meinen Problemen, und auch mein Vater machte keine großen Worte über die schulischen Vorgänge, die uns an diesen abgelegenen Ort geführt hatten.
     
    Nach dem Üben ging ich hinab zum Fluss, ich schaute zu, wie die Kähne gesäubert und frisch gestrichen wurden, oder ich half im Garten, indem ich die Pflanzen begoss oder das Unkraut von den schmalen Gehwegen harkte. Im Grunde gab es laufend irgendetwas zu tun, man brauchte keinen Moment zu überlegen, was genau, die Arbeit ergab sich von allein, indem man mir dieses oder jenes Gerät in die Hand drückte oder mich hinter den kleinen Tisch an der Kahnanlegestelle setzte, wo ich die Kasse verwaltete und den Gästen in einen Kahn half, ihnen die Ruder nachreichte und die Kähne ins Wasser schob, mit bloßen Füßen, die Hosen hochgekrempelt bis zu den Knien …
    Mein Gott! Die Erinnerung an diese ersten Tage in meinem Leben, die ich ohne meine Mutter verbrachte, stimmt mich heute melancholisch. Indem ich von ihnen erzähle, entstehen vor meinem inneren Auge Bilder von so großer und nachhaltiger Schönheit, dass sie mir vorkommen wie Bilder von Claude Monet: Die langen Pappelalleen entlang des Flusses mit den hellgrün blitzenden und sich im Wind drehenden Blättern, die Raubvögel hoch oben auf den Baumspitzen entlang der Straße, die unvermutet hinab aufs Feld stießen und sich dort eine Maus schnappten, die schweren Gänse, die sich jeden Mittag am Wehr zeigten und sich später im Schilf versteckten …- endlos könnte ich in der Aufzählung und Beschreibung solcher Bilder fortfahren, die in der Erinnerung etwas Weites und Strahlendes haben, ohne jede Beimischung von Trauer oder Unbehagen.
     
    Natürlich frage ich mich heute, ob diese Tage wirklich so friedlich und klar, so beinahe festlich und entspannt, verliefen, aber ich kann trotz allen Nachdenkens nichts Gegenteiliges finden. Die Trauer, die ich bei meiner Abreise aus Köln noch so heftig gespürt hatte, verschwand auf dem Land vor allem dadurch, dass ich unaufhörlich etwas zu tun hatte. Hinzu kam, dass ich in einer Gemeinschaft lebte, die selbst dauernd beschäftigt war und all ihr Arbeiten anscheinend nicht als eine Qual, sondern als eine mit einer gewissen Hingabe zu absolvierende schöne Pflicht empfand.
    Schon nach wenigen Tagen verblasste Mutters Bild daher allmählich, es kam immer seltener in meinen Gedanken vor, und wenn ich an sie dachte, dann mit einem leichten Erschrecken, als krampfte sich in meinem Innern etwas zusammen bei der Erinnerung an die dunkle, stille und meist etwas unheimliche Wohnung in Köln, in der sich jetzt vielleicht die hellen Frauenstimmen austobten.
     
    Wenn ich aber heute an diese grünen, leuchtenden Landbilder denke, stellt sich ein Heimweh ein, wie ich es in Rom beinahe noch nie erlebt habe. Nun aber, in meiner Erinnerung an diese erste Zeit ohne Mutter, werde ich davon überwältigt und gerate in eine starke Unruhe, wenn ich inmitten meiner römischen Wohnung die Bilder meiner Kindheitslandschaften vor meinem inneren Auge sehe.
    Dabei möchte ich gar nicht zurück in diese Landschaften, nein, das ist es nicht, mein Heimweh ist keine Nostalgie und auch keine Verklärung all dieser Tage. Ich sehne mich vielmehr nach einem langen Tisch und nach Tischgesprächen am Mittag, ich sehne mich nach dem Dahintreiben in einem Kahn in Begleitung von zwei oder drei anderen Träumern, und ich sehne mich über alle Maßen danach, Klavier spielen und mit

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