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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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meine bloße Anwesenheit war das Ärgernis, das man beseitigen wollte.
     
    Es war also höchste Zeit, es musste wirklich etwas geschehen. Im Grunde befand ich mich – wie in der Zeit vor dem Beginn meines Klavierspiels, als ich mich beinahe vollständig auf meine autistischen Spielereien zurückgezogen hatte – wieder an einem Anfang: Einige Wochen Schule waren bereits vergangen, doch es stand um mich schlimmer als in den ersten Schultagen, als ich wenigstens noch die Hoffnung gehabt hatte, etwas lernen zu können.
    Diese Hoffnung gab es nun nicht mehr, denn anstatt zu lernen, hatte ich mich in ein Niemandsland begeben, in dem einzig und allein meine Phantasien das Sagen hatten. Daher hieß es, ich sei zu nichts fähig und für nichts zu gebrauchen . Die bösen Formeln enthielten indes durchaus einen Teil Wahrheit, denn wenn es mit mir so weitergegangen wäre, wäre ich in der Tat zu nichts fähig und für nichts mehr zu gebrauchen gewesen.
    Selbst meinem Klavierspiel merkte man inzwischen meine schulischen Misserfolge an: Ich übte immer verkrampfter, ich traute mir nichts mehr zu, ja ich glaubte nicht mehr so fest wie früher, dass ich wirklich einmal ein guter Pianist werden würde.
     
    Mein Leben war also an einem Nullpunkt angekommen. Vielleicht hätte ich noch ein paar Wochen auf meinem Klavier improvisiert und geübt, dann aber auch damit Schluss gemacht. Ich wäre in eine Sonderschule gesteckt worden und hätte mich dort zu Tode gelangweilt, ja ich hätte mich allen Anforderungen vielleicht vollständig entzogen und für immer aufgegeben.
    Diese Tendenz, die Tendenz zu Passivität und Selbstaufgabe – sie habe ich in den kritischen Momenten meines Lebens, aber auch in anderen, unvorhersehbaren Augenblicken, immer wieder sehr heftig gespürt. Meist kündigt sich eine solche Empfindung durch einen Stimmungsumschwung an, durch ein Abstürzen in Lustlosigkeit und Erstarrung, von denen ich mich dann meist nur mühsam und mit Hilfe von mehreren gewaltsamen Anläufen befreien kann. Es ist aus , denke ich dann, es ist aus, ich werde es nie mehr schaffen, ich brauche mich nicht mehr zu bemühen, es ist alles aus, vergebens, umsonst.
     
    Damals, nach meinen ersten Schulwochen, erlebte ich die Dramatik einer solchen schweren Krise zum ersten Mal, hatte jedoch gleichzeitig das große Glück, dass mein Vater diese besondere Dramatik in ihrem ganzen Ausmaß begriff. Auf den Nullpunkt, an dem ich angekommen war, reagierte er mit einem Programm, wie man es sich nicht genialer hätte ausdenken können, dabei hatte er nicht die geringste Idee und nicht einmal die Spur eines Plans. Die Genialität seines Vorhabens entstammte denn auch nicht langen Überlegungen oder irgendeinem Kalkül, sondern ausschließlich seiner Intuition, die instinktiv, geradlinig und direkt vorging.
    Mein Vater handelte also beinahe blind, und doch tat er in allen, aber auch allen Einzelheiten genau das Richtige. Insgesamt ist aus diesem instinktiv richtigen Handeln ein Rettungsprogramm für mein ganzes Leben entstanden. Ich weiß, das hört sich etwas übertrieben und großartig an, aber es stimmt, denn aufgrund dieses Programms war ich dann wahrhaftig, wie sich freilich erst sehr viel später herausstellte, fürs Erste gerettet. Doch nicht so voreilig, lieber der Reihe nach …

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    DASS die große Natur die beste Schule ist, die es überhaupt gibt , das war, in eine einfache Form gebracht, Vaters ganzes Credo. Auf einem abgelegenen Bauernhof mit angeschlossener Gastwirtschaft zusammen mit zehn Geschwistern aufgewachsen, hatte er alle prägenden Erfahrungen in einem weiten Naturraum gemacht, in dem er sich bis in die kleinsten Details auskannte. Schon in der Jugend hatte er sich daher nur einen Beruf vorstellen können, der es ihm ermöglichte, so viel Zeit wie nur irgend möglich in der Natur zu verbringen. Eigentlich hatte er Förster werden wollen, dann aber hatte er sich – aufgrund seiner guten mathematischen Fähigkeiten – für den Beruf des Geodäten entschieden.
    In Bonn studierte er Vermessungskunde und erhielt nach dem Studium eine Anstellung als Vermessungsingenieur bei der damaligen Deutschen Reichsbahn. Sein erster Arbeitsort wurde Berlin, dort machte er schnell Karriere, bis der Krieg seine Laufbahn für mehr als sechs Jahre unterbrach und ihn als Soldaten bis nach Russland brachte. In den letzten Kriegsmonaten kam er während der Endkämpfe in Berlin zum Einsatz, dort wurde er schwer verwundet, auf Krücken legte er den

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