Die Erfindung des Lebens: Roman
das aber gehörte, wie schon gesagt, lediglich zum ersten Schritt des Programms, das Vater im Kopf hatte. Als er beobachtete, dass sein Programm anschlug und ich durchaus willens war, etwas zu tun und mich in die Gemeinschaft einzugliedern, war er zwar noch nicht zufrieden, wohl aber erleichtert. Ich sah ihm an, dass er manchmal nach mir schaute, dabei blieb er aber auf Distanz und kam nur selten zu mir, um sich mit mir zu unterhalten, vielmehr betrachtete er mich aus größerer Entfernung, als wollte er das Bild des arbeitenden Kindes auf sich wirken lassen und in Ruhe herausbekommen wie es mir ging.
Der Eindruck, den ich dabei machte, war, wie man mir später einmal erzählte, der einer raschen Genesung. Von Tag zu Tag verschwand ein wenig mehr von dem blassen, dünnen und so überaus furchtsamen Kind, das sich in Köln keinen einzigen Schritt von den vorgesehenen Wegen entfernt und letztlich doch immer nur das Zuhause der Wohnung im Kopf gehabt hatte. Dieses blasse Kind bekam Farbe und legte seine Vermummungen allmählich ab.
Schon das Arbeiten im Unterhemd bedeutete eine Befreiung – weg mit all den Stoffen, Bekleidungen und Überkleidern, die mir Mutter aus lauter Angst vor einer Grippe oder einer anderen Erkrankung früher angezogen hatte. Unten am Fluss konnte ich mich an warmen Tagen sogar mit freiem Oberkörper herumtreiben, so dass dieser lange wie gelähmt wirkende Körper endlich auch mehr Beweglichkeit und Kontur erhielt. Zusammen mit den anderen körperlichen Anstrengungen, die mich nachts gut und tief schlafen ließen, war die dauernde Bewegung im Freien der Grund dafür, dass ich meinen Körper endlich spürte. Er war nicht mehr nur ein verquerer Bau aus ungelenken Knochen, der mit Armen und Händen dann und wann ein wenig Musik hervorbrachte, sondern eine zusammenhängende Gestalt, von der im Verlauf eines Tages der Einsatz sämtlicher Glieder verlangt wurde.
Kein Wunder also, dass ich kräftiger und schneller wurde. Vor allem die beinahe von Tag zu Tag zunehmende Schnelligkeit ließ mich selbst manchmal erstaunen, konnte ich doch leicht erkennen, um wie viel rascher ich bestimmte Wege plötzlich zurücklegte. Das schnelle Laufen am Fluss entlang oder die Wiesen hinauf auf die hügeligen Anhöhen in der Ferne erlebte ich mit wachsender Euphorie, nie hatte ich mir früher vorstellen können, dass pures Laufen eine solche Freude machen konnte.
Hinzu kam das Reiten. In Köln hatte ich immer nur zusammen mit einem Jockey reiten dürfen, wobei es mir am Ende beinahe so vorgekommen war, als traute man mir wohl niemals zu, einmal allein in einen Sattel zu steigen. Die schnellen Ritte auf der Galopprennbahn hatten eher wie Zirkus-Kunststücke oder wie Unterhaltungsprogramme für einen Beschränkten gewirkt und meist auch höchstens eine halbe Stunde gedauert. Danach hatte ich wieder einmal zuschauen dürfen, zuschauen, wie das Training verlief, oder zuhören, wie sich die Reiter über ihre Pferde unterhielten. So war ich auf der Rennbahn nichts anderes gewesen als eine pittoreske Figur am Rand oder ein Sozialfall, dem gegenüber man sich karitativ verhalten konnte. Wirklich ernst hatte mich niemand von all diesen Reitern und Pferdefreunden genommen, kein Einziger hatte jemals daran gedacht, mich einmal allein auf ein Pferd zu setzen oder mit mir bestimmte Übungen zu machen.
Auf dem Hof jedoch war das anders, denn es war selbstverständlich, dass man auf Pferden zu den weiter entfernten Feldern oder Wiesen ritt. Das Reiten war weder eine Kunst noch ein Sport, es gehörte einfach zum Alltag. Alle paar Tage bewegte man die Tiere übers Land und ritt dabei immer in der Gruppe, mit den erfahrensten Reitern an der Spitze und am Ende. Selbst ein im Reiten unerfahrenes Kind wie ich brauchte man nicht lange darüber zu belehren, wie es sich verhalten sollte. Ich hatte dann und wann schon einmal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen, umso besser, dann würde ich schon alles richtig machen.
Es waren diese Einfachheit und Geradlinigkeit, die mich damals stark beeindruckten. Sie nahmen mir das Nachdenken ab und machten mich mit meiner Umgebung vertraut. Ich arbeitete, ich rannte die Strecken in immer schnellerem Tempo, ich ritt stundenlang mit aus, ohne dass jemals etwas passierte – meine ganze Leidenschaft aber galt noch etwas anderem, das nicht so leicht zu lernen war und von dem ich mir doch ein besonderes Vergnügen versprach. Ich hatte mir nämlich in den Kopf gesetzt, so bald wie möglich schwimmen
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