Die Erfindung des Lebens: Roman
unfassbar weiten Weg von Berlin bis zu seinem Elternhaus im Westerwald zurück.
Wenige Monate nach Kriegsende fand er dann in Köln wieder eine Anstellung bei der Bahn. Er vermaß Bahnlinien und Brückenbauten und brachte später die Elektrifizierung der Bahnstrecken im Rheinland voran. Im alten Gebäude der Bundesbahndirektion hatte er ein großes Büro mit Blick auf den Rhein, in dem er sich jedoch höchstens ein paar Tage im Monat aufhielt. Sonst zog er täglich mit einem Stab von Mitarbeitern ins Freie, ich sehe ihn noch genau vor mir, wie er morgens manchmal in Knickerbockern und voller Elan zu den Vermessungsarbeiten aufbrach, die ihn in die Rheingegenden bis nach Koblenz führten.
Die Natur zu vermessen – das bedeutete für ihn aber mehr als nur eine Vertiefung in exakte Rechenarbeit. Im Grunde bedeutete es nämlich, sich dem gesamten Naturraum beobachtend zu nähern, ihn in seiner Eigenart zu erschließen, ihn in Segmente und Bruchstücke zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, all seine Eigenheiten und Atmosphären zu studieren.
Das große Thema dieser detailreichen Studien war also der Raum der Natur, dem Vater sich mit einer seltenen Mischung aus Rücksichtnahme und Begeisterung näherte. Am Anfang jeder dieser Annäherungen stand immer der Blick auf das Ganze, darauf, wie sich die Hügel an den Fluss schmiegten, welche Horizontlinien sich dadurch ergaben, wie die Ortschaften und Dörfer sich jeweils dazu verhielten, wie sie die Umgebung des Flusses prägten und veränderten.
Danach aber kam das Studium der Details, die Beobachtungen der Pflanzen- und Tierwelt, des Verlaufs der Pfade und Straßen, der Anordnung der Höfe und Häuser. Das alles wurde vor Ort studiert und dann mit den Angaben auf den Messtischblättern verglichen, bis sich so etwas wie ein Empfinden dafür einstellte, wie die jeweilige Landschaft gestaltet war. Dieses Empfinden bestätigte oder veränderte sich dann in den Gesprächen mit den Bewohnern, die Vater nicht schwerfielen, weil er leicht und ohne Umstände selbst mit ihm völlig unbekannten Menschen auf der Straße ins Gespräch kam. Seine einfache Herkunft vom Land hat ihm dabei gewiss geholfen, denn er sprach mit den Menschen sehr direkt und hatte ein gutes Gespür dafür, was sie beschäftigte und um was sie sich sorgten.
Diese Begabung führte schließlich auch dazu, dass ihm die Grundstückskäufe der Bahn entlang der Rheintrassen übertragen wurden. Manchmal zogen sich die Verhandlungen mit Bauern, Winzern und anderen Grundstückseigentümern tagelang hin. Dann zog Vater in einen Dorfgasthof und richtete in ihm ein kleines Büro ein. Mittags aß er zusammen mit seinen Mitarbeitern an einem großen Tisch, abends lud er die Bewohner zu einem Glas in die Wirtschaft. Man kam ins Gespräch, manchmal dauerte so etwas nächtelang, doch Vater hatte durch seine Herkunft als Gastwirt- und Bauernsohn eine solide Kondition und eine nicht zu unterschätzende Erfahrung darin, wie solche Gespräche verliefen. So wurden nicht selten kurz vor Mitternacht noch Vereinbarungen getroffen und in manchen Fällen sogar Verträge geschlossen …
All das, was er von seinem Beruf und seiner Herkunft her wusste, all seine Erfahrungen aus einigen Jahrzehnten kreisten also um die weite Natur, ihre verschiedenen Zonen und Räume und deren Erschließung. Seit seinen frühsten Tagen war er mit ihnen in allen nur denkbaren Nuancen vertraut, deshalb konnte er sich auch gar keinen anderen Rettungsplan für mich vorstellen als eine Heranführung an genau dieses lebendige, anschauliche Wissen.
Es war das Einzige, über das er verfügte, in seinen Augen hatte es etwas Starkes, Fundamentales, und damit etwas, das kein Brot- oder Gelehrtenwissen einem vermitteln konnte. Sich in der Natur aufhalten, in die Natur gehen – so lauteten die einfachen Prämissen, von denen aus sich die weiteren Schritte, wie er ohne die geringsten Zweifel dachte, dann schon von allein ergeben würden.
Daher wurden ohne weitere Überlegungen die Koffer für einen längeren Aufenthalt auf dem Land gepackt. Vater hatte sich freigenommen, für wie lange, sagte er nicht, ich würde ihn begleiten, die Mutter würde zunächst allein in der Kölner Wohnung zurückbleiben – so hatte Vater es beschlossen, und so verkündete er es mir dann mit einer Entschiedenheit, als handle es sich um Entscheidungen, denen gegenüber jeder Widerstand zwecklos war.
Und wahrhaftig: Selbst Mutter, von der ich zumindest einen leisen
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