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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Widerstand erwartet hatte, schien mit diesen Entschlüssen einverstanden, als wären genau sie und keine anderen jetzt notwendig. Jedenfalls war ihr nicht anzumerken, dass sie Bedenken dagegen hatte, sich von mir zu trennen.
    Ich sehe sie noch jetzt vor mir, wie sie beinahe einen ganzen Tag mit dem Packen der Koffer verbrachte, die auf den Betten des Elternschlafzimmers lagen und Schicht für Schicht mit Kleidung für jedes Wetter gefüllt wurden. Sie bewegte sich rasch und leicht durch die Wohnung, holte von hier und dort eine Kleinigkeit zum Einpacken, verstaute alles mit großer Sorgfalt, ordnete es wieder um und machte den Eindruck einer beflissen arbeitenden Frau, die eine Sache unbedingt voran und zum Abschluss bringen wollte.
     
    Zum ersten Mal in unserem Familienleben benutzten wir für die Fahrt zum Bahnhof ein Taxi, es wartete mit laufendem Motor unten vor dem Eingang unseres Wohnhauses. Mutter begleitete Vater und mich nicht mit hinab, sie blieb oben in der Wohnungstür alleine zurück, nachdem sie mich genauso umarmt und verabschiedet hatte wie an den bisherigen Schulmorgenden. Ich spürte genau, dass Vater und sie sich über diesen Abschied unterhalten und sich anscheinend darauf geeinigt hatten, alles solle so spontan und harmlos erscheinen, als machten Vater und ich nur einen Ausflug, ja, ich hatte Vater sogar im Verdacht, das Taxi lediglich deshalb bestellt zu haben, damit wir keine Zeit für ein langes Abschiednehmen hatten.
    Unten angekommen, wuchtete er die Koffer eigenhändig in den Kofferraum des Autos und setzte sich im Wagen dann nach hinten, neben mich. Kurz schaute er mich von der Seite aus an, um sich zu vergewissern, dass mit mir alles in Ordnung war. Ich aber schaute nicht zurück, denn ich hatte zu viel damit zu tun, die Zähne zusammenzubeißen und Haltung zu bewahren. Nein, ich konnte mir ein Leben ohne Mutter nicht vorstellen, ich konnte es schon deshalb nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, wie sie die folgenden Tage allein in der Wohnung verbringen würde. Was war denn ein Leben ohne mich noch für sie? Sie würde die Tage in der immer stiller werdenden Wohnung absitzen, sie würde keinen Schritt mehr hinaus tun, sie würde ein Buch nach dem andern lesen und immer unruhiger werden, sie würde Musik hören, hohe, helle Frauenstimmen in einsamen Felslandschaften …
     
    Ich wollte Vater aber nicht zeigen, wie unruhig ich war und was in mir vorging. Er hatte alles genau durchdacht, das konnte ich ja erkennen, er würde mich begleiten und nicht allein lassen, und außerdem fuhren wir ja nicht in eine uns beiden unbekannte Fremde, sondern heimwärts , wie er es nannte, heim zu dem großen Bauernhof mit angeschlossener Gastwirtschaft an dem schmalen, im Sonnenlicht funkelnden Fluss, an dem Vater seine ganze Kindheit verbracht hatte.

15
     
    WIR BEZOGEN eines der fünf Fremdenzimmer im ersten Stock der Gastwirtschaft, die sonst vor allem von Ferien- und Wochenendgästen aus dem Rheinland belegt wurden. Aus dem einzigen Fenster hatten wir einen schönen Blick auf den Fluss, die großen Eichen und Buchen an seinem Ufer und das jenseitige, etwas ansteigende Wiesengelände mit Kühen und Pferden. Frühmorgens gingen wir vor dem Frühstück kurz ins Wasser, Vater schwamm einige Minuten, und ich ging zumindest bis zum Kopf ebenfalls hinein und machte einige Schwimmbewegungen. Danach wurde in der großen Küche an einem langen Tisch, auf dem sonst die Bestandteile der Mahlzeiten klein geschnitten und für das Kochen und Braten präpariert wurden, gefrühstückt.
     
    Manchmal saßen bis zu zwanzig Personen an diesem Tisch, Geschwister meines Vaters, ihre Ehepartner, Mägde und Knechte, Küchenhilfen – trotz der vielen Personen war es aber die ruhigste Mahlzeit des Tages und für alle Anwesenden anscheinend ein großer Genuss. Fast alles, was sich auf dem Tisch befand, war nämlich auf dem Hof hergestellt worden, das Brot in dem kleinen Backes, der sich im flussnahen Teil des Gartens befand, die Wurst bei den Schlachtungen in den weiten Kellergewölben der Wirtschaft, der Honig, die Marmeladen, der Käse, die Butter – all das schmeckte kräftig und eigen und war einer der Gründe dafür, warum die Wirtschaft so gut besucht wurde.
     
    Nach dem Frühstück gingen alle ihren Tätigkeiten nach, einige auf den Feldern, andere im Garten oder in der Küche. Vater ging meist mit aufs Feld und kam dann erst am Mittag wieder zurück, während ich ihn nicht begleitete, sondern mich an das

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