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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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diesem Spiel die Arbeit anderer Menschen unauffällig aus dem Hintergrund begleiten zu dürfen.
     
    In einem Anfall von Hilflosigkeit habe ich in den letzten Tagen sogar manchmal daran gedacht, bei meinen Nachbarn zu klingeln und der kleinen Marietta meine Hilfe bei ihren Klavierübungen anzubieten. Als ich ihrer schwarzhaarigen Mutter im Treppenhaus begegnete, fing ich sofort an, davon zu sprechen, geriet aber bei der umständlichen Erwähnung der Tatsache, dass auch ich – angeblich als Kind – einmal Klavier gespielt habe, völlig durcheinander. Spielen Sie denn noch heute? , fragte mich Mariettas Mutter, und ich antwortete: Keineswegs, seit Langem nicht mehr, und doch … Darauf winkte ich ab und verabschiedete mich rasch, ich hatte meinen Auftritt nicht richtig vorbereitet, ich hatte es gründlich vermasselt.
     
    Als wollte ich mich bestrafen, verließ ich danach das Haus, untersagte mir, bei Marietta zu klingeln und nahm an der Metro-Station Piramide einen Zug ans Meer. Etwas über eine halbe Stunde saß ich in einem hellblauen, von den salzigen Winden der Umgebung gebleichten Zugwagen und zwang mich, auf Gegenden zu schauen, die mit den heimatlichen der Kindheit nicht die geringste Ähnlichkeit hatten. Trockene, ockergelbe Schilflandschaften, kleine, verlassene Bahnhöfe mit verfallenen Bahnhofsgebäuden, Reparaturwerkstätten mit herumstreunenden Hunden und Katzen.
    Als ich in Ostia ankam, hatte ich das Gefühl, alle Wehmut hinter mir zu haben, ich hatte eine andere Seite der Erdkugel erreicht, ich war dem Heimweh entkommen. Ich ging die paar Schritte bis zum Meer und erreichte die Ufer-Promenade über eine kleine Treppe. Von dort oben sah man auf die Weite des gärenden Blaus, das in eine unendliche Ferne zu rollen schien.
    In die Ferne? Nein, ich hatte mich gründlich getäuscht, denn während ich die kleinen Wogen beobachtete, wie sie an dem dunkelgrauen Strand ausliefen wie glitzerndes Zuckerwasser, das auf dem Sand feine weiße Spuren und Linien zeichnete, kam prompt das Heimweh zurück. Es war sogar so, als zöge mich dieses unendliche Blau immer tiefer hinein in einen Erinnerungsstrudel und als provoziere es geradezu die Gegenbilder: tiefdunkles Grün, die mächtige Andachtsstille der Wälder.
     
    Ich wandte mich ab und ging die Uferpromenade entlang, ohne das Meer zu beachten. In einem kleinen Restaurant wählte ich einen Tisch mit dem Rücken zum Blau. Erwarten Sie noch jemanden? , fragte der Kellner, und ich antwortete: Nein, heute nicht, aber in der nächsten Woche komme ich mit ein paar Freunden.
    Was für einen Unsinn ich daherredete! Und das alles nur, weil ich meine Wehmut nicht unter Kontrolle hatte! Ich sehnte mich danach, ein paar einfache Aufgaben in einer kleinen Gemeinschaft zu haben, die mit sich zufrieden war und keine großen, unerreichbaren Ansprüche stellte, und ich sehnte mich danach, endlich nicht mehr allein durch Rom und seine Straßen zu gehen.
    In jenen ersten Tagen, die ich mit dem Vater auf dem Land verbracht hatte, hatte ich das zufriedene und arbeitsame Leben von Menschen kennengelernt, die dreimal am Tag an einem langen Tisch zusammenkamen, um all das zu genießen, was sie angebaut, geerntet und mit eigenen Händen hergestellt hatten. Die Erinnerung an dieses ruhige Dasein und all die weiten Bilder, die es begleiteten, waren so stark, dass anscheinend nicht einmal Rom und seine Umgebung dagegen ankamen.
    Das war allerhand, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war nach Rom gefahren, um meine Erinnerungen auf Distanz zu halten und ihrem gefährlichen Sog durch ein Leben in der Fremde zu entgehen, jetzt aber stellte ich fest, dass diese Erinnerungen mich gefangen hielten und Unterwerfung verlangten.
     
    Wie hatte ich denn in all der Zeit gelebt, in der ich den ersten Teil dieses Buches geschrieben und von meinem stummen Dasein erzählt hatte? Ich hatte mich in einer römischen Wohnung vergraben, zu niemandem richtig Kontakt aufgenommen, einzelgängerische weite Spaziergänge gemacht und letztlich an nichts anderes gedacht als an die bedrohlichen Szenerien meiner Kindheit. Innerlich und äußerlich war ich erstarrt, wie ein Mensch, der wochenlang unter einem Schock steht.
    Jetzt aber, als ich mich daranmachte, von meinem zweiten Leben zu erzählen und von der Gemeinschaft mit den Verwandten auf dem Land, der Arbeit dort und der Nähe zur Natur, wurde dieses erstarrte Dasein mir unheimlich und fremd. Verblüfft beobachtete ich, dass ich mich nach Menschen, gemeinsamen

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