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Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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hatte, hatte er meinen Onkel zum ersten Mal angeschaut und ihn mit seinem Vornamen angeredet: Hubert, ich bin’s, ich bin Josef, Dein Bruder, entschuldige, dass ich Dich nicht gleich begrüßt habe, aber ich wollte mich erst fein machen für Dich und mir den ganzen Dreck aus dem Gesicht waschen!
     
    Es gibt kaum eine Geschichte, die deutlicher macht, was für ein Mann mein Vater eigentlich war. Er hatte etwas ungemein Gerades, Schlichtes und Ehrliches und war nicht zu der geringsten Boshaftigkeit fähig. Wenn man ihn beobachtete, wie er einer Arbeit nachging oder anderen half, bei einer Arbeit voranzukommen, überkam einen nicht selten eine starke Rührung darüber, einen so uneigennützigen, hilfsbereiten und gut gelaunten Menschen vor sich zu haben.
    Die meisten seiner vielen Schwestern liebten ihn deswegen sehr, ohne dass er auf diese Zuneigung besonders reagiert oder sie noch durch besondere Gesten der Anteilnahme weiter genährt hätte. Er war einfach ein Mann, den viele von ihnen vom Fleck weg gerne geheiratet hätten, einfach schon deshalb, weil man so gern in seiner Nähe war und sich in dieser Nähe aufgehoben und geborgen fühlte. Ein Mensch ohne falschen Ehrgeiz und ohne die Spur von Neid! Gab es so etwas sonst überhaupt?
     
    Ich habe ihm damals nicht sofort verraten, dass ich schwimmen konnte, sondern meine Freude darüber noch eine Weile für mich behalten. Irgendwann würde der Augenblick kommen, wo ich es ihm zeigen konnte, das wusste ich, zumal er nach einiger Zeit damit anfing, die Spaziergänge, die wir täglich vom Hof aus machten, immer mehr auszudehnen.
    Diese Spaziergänge begannen nach meinem morgendlichen Klavierüben, meist schmierten wir uns in der Küche vorher einige Brote und nahmen noch etwas zu trinken mit. Vater trug einen kleinen Rucksack, und auch ich hatte einen Rucksack bekommen, in dem ich einige Utensilien unterbringen konnte.
    Zunächst waren wir einige Stunden in der Umgebung des Hofes unterwegs gewesen, dann aber hatten wir unsere Gänge ausgedehnt und waren mittags nicht mehr auf den Hof zurückgekehrt. Wir wanderten schmale Landstraßen und Feldwege entlang, stiegen die oft steil ansteigenden Hügel und Höhen hinauf, durchstreiften das Unterholz der Wälder und liefen quer über die Äcker und Felder, ohne eigentlichen Plan und anscheinend auch ohne ein richtiges Ziel.
     
    Es war das erste Mal, dass ich tagelang mit Vater allein unterwegs war, und insgeheim war ich darauf sehr stolz. Vater nahm sich Zeit für mich! Vater ging nur mit mir allein durch die Gegend, als wäre das auch für ihn eine große Freude! Aber war es das auch? War dieses Gehen und Wandern auch für ihn etwas Besonderes? Oder musste er sich nicht langweilen, in der Begleitung eines Kindes, das ja nur stumm neben ihm herlief und nichts zu irgendeiner Unterhaltung oder Abwechslung beitragen konnte?
     
    Ganz sicher war ich mir nicht, was Vater empfand, wenn er mit mir zusammen unterwegs war. Manchmal holte er eines seiner exakten Messtischblätter aus dem Rucksack und studierte längere Zeit, wo wir uns befanden, ein anderes Mal setzte er sich für einige Zeit auf eine Bank und zeichnete die Umgebung. In solchen Pausen hatte ich nichts Rechtes zu tun, ich durchstreifte ein wenig die Umgebung und war froh, wenn ich auf einen Hochsitz traf, dessen wacklige Leiter ich hinaufsteigen konnte, oder wenn wir auf eine Lichtung gerieten, wo einige Strohballen gestapelt waren, auf denen ich dann etwas herumturnte.
    Hatte er seine Zeichnung beendet, rief er mich jedes Mal zu sich und zeigte sie mir. Es handelte sich um sehr feine Bleistiftskizzen, die er in großer Geschwindigkeit entwarf. Meist zeigten sie ein kleines Panorama der näheren Umgebung: eine zum Tal hin abfallende Wiese mit dem gegenüberliegenden Gelände eines kleinen Dorfes …, ein Flusstal mit einer Brücke, von hoch gelegenen Felsen aus in seiner ganzen Länge betrachtet …, eine versteckte Wildhütte an einem Waldrand, mit den hinter ihr aufsteigenden dichten Nadelwäldern.
    Während Vater seine Zeichenblätter vor mir ausbreitete, deutete er mit dem Stift auf die Einzelheiten und benannte sie: Das ist … , und dort, das ist die Höhe von …, und von dieser Hütte aus sind Hubert und ich einmal zur Jagd aufgebrochen. Während dieser Erklärungen schaute er mich an, als wollte er sehen, ob mich das alles auch interessierte, ich aber nickte und nickte, ich nickte zu jeder Bemerkung, denn wie sollte ich ihm mein Interesse bekunden, wenn nicht

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