Die Erfindung des Lebens: Roman
unter Wasser zu bleiben! Ich musste nur die Luft anhalten und möglichst langsam ausatmen, dann ließen die Sekunden sich strecken! Wie ein dem Leben auf der Erde entglittener Körper schwebte ich regungslos im Wasser, drehte mich auf den Rücken, kam langsam nach oben und spürte die Sonne auf meinem Gesicht! Langsam ausatmen, die Arme ausbreiten, sich nicht mehr bewegen!
Jetzt kannst Du schwimmen, dachte ich auf einmal, Du kannst schwimmen, wahrhaftig, Du kannst es wirklich, und niemand hat es Dir beigebracht, kein Mensch hat es Dir beigebracht, das Wasser und die Sonne, die haben es Dir beigebracht!
Ich weiß noch genau, wie ich später die Füße wieder auf den Boden des Sees setzte und langsam den See verließ. Ich fühlte mich plötzlich unendlich müde, als wäre ich lang unterwegs gewesen und hätte eine anstrengende Reise hinter mir. Dann legte ich mich auf den Steg und blickte zum Himmel. Und während ich hinauf starrte in das Blau und noch gar nicht richtig begriff, was gerade passiert war, durchzuckte es mich: Dort unten in der Tiefe des Sees …- da gab es nicht nur die vollkommene Schönheit des Schweigens, sondern da lauerte auch die Schönheit des Todes. Nur einige Momente länger dort unten in der Tiefe des Wassers geblieben – und schon wäre alles vorüber gewesen! So leicht konnte man sich also das Leben nehmen, mühe- und schwerelos, ganz ohne großen Aufwand!
Mich fröstelte, die Sonne war längst untergegangen. Ich stand auf und zog mich rasch an, und als ich wieder in der Gastwirtschaft war, glaubte ich fest, dass man mir ansah, was ich erlebt hatte. Wo bist Du denn so lange gewesen?, fragte mein Vater und fuhr mir mit der Hand über den nassen Kopf. Ich presste mich an ihn, eine leichte Angst war von dem Erlebnis geblieben. Hat jemand gesehen, wo der Junge gewesen ist? , rief mein Vater in die Runde.
Die anderen schauten mich an, und ich spürte, wie peinlich es war, wieder so angeschaut zu werden wie früher. Ich fuhr mir über das Gesicht, als wollte ich alle Schatten vertreiben. Da aber stand der älteste Bruder meines Vaters auf und führte mich in die Küche. Junge, trink was! , sagte er und drehte den Wasserhahn auf.
Sofort begriff ich, was er meinte. Ich hielt meine beiden Hände hin und ließ das Wasser hineinlaufen. Und dann trank ich zum ersten Mal so, wie ich Vater seit Jahren in unserer Kölner Wohnung hatte trinken sehen, wenn er am Abend von der Arbeit nach Hause gekommen war und mächtigen Durst gehabt hatte, großen, mächtigen, nicht enden wollenden Durst!
17
DIE GESTE des Wassertrinkens aus der hohlen Hand ist die erste, die ich von meinem Vater übernommen habe, noch hier in Rom ertappe ich mich beinahe jeden Tag dabei, dass ich an irgendeinem der vielen Wasserspender haltmache und lange trinke. Überall in der Stadt sind diese kleinen, unablässig sprudelnden Wasserreservoire zu finden, und das Wasser, das sie so freigebig austeilen, ist immer kalt, klar und frisch. Wenn ich dann meine beiden Hände ausstrecke und das Wasser hineinlaufen lasse, ist jedes Mal die Erinnerung da: Wie mich mein Onkel als Kind in die Küche der Gastwirtschaft führte, um mich trinken zu lassen.
Noch heute kommt mir diese Idee seltsam vor. Wie kam er nur darauf, dass ich durstig sein könnte, durstig nicht nur vom Schwimmen und vom Liegen in der Abendsonne, sondern auch durstig von meinem Erschrecken darüber, dass ich dem Tod so nahe gewesen und dass Sterben so einfach war?
Später habe ich von meinem Onkel erfahren, wie mein Vater schwer verwundet aus dem Krieg nach Hause, auf seinen elterlichen Hof, zurückgekehrt ist. Mein Onkel hatte seinen Bruder zunächst nicht erkannt, sondern lediglich einen auf Krücken humpelnden Mann wahrgenommen, der auf der Landstraße nur langsam voran und näher kam. Dieser Mann hatte schließlich die Wirtschaft betreten, sich aber weder an einen Tisch noch an die Theke gesetzt. Stattdessen war er grußlos an meinem Onkel vorbei in die Küche gegangen, mit tief gesenktem Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet.
Mein Onkel hatte nichts dazu gesagt, sondern war dem Mann nur in die Küche gefolgt, wo er den Wasserhahn aufgedreht und minutenlang aus den hohlen Händen getrunken hatte, um sich schließlich das Wasser über den Kopf zu gießen und nach einem Handtuch Ausschau zu halten. Der Onkel hatte dem Mann dabei geholfen und ihm ein Handtuch gereicht, und als der schwer verwundete Mann sich die Haare getrocknet und das Gesicht abgewischt
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