Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erfindung des Lebens: Roman

Die Erfindung des Lebens: Roman

Titel: Die Erfindung des Lebens: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
Vom Netzwerk:
die Sonnenstrahlen für den Bruchteil einer Abendstunde wirklich genau bis hinab zum See reichten.
    Dieser Beobachtung war ich nachgegangen und deshalb zu den verschiedensten Tageszeiten zumindest für ein paar Minuten hinunter zum See geklettert, um zu sehen, ob sich die Sonne dort unten auch einmal länger zeigte. Das war aber nicht der Fall gewesen, die Sonnenstrahlen erreichten den See immer nur für höchstens eine halbe Stunde am frühen Abend, und zwar genau dann, wenn die Sonne sehr tief stand und gerade noch wie eine auslodernde Flamme über der Bergkuppe hing.
    Es war ein letztes, prachtvolles Glimmen, das sich dann in die Tiefe des Tales ergoss und dort auf den beinahe kreisrunden See traf, dessen laichgrünes Wasser golden aufglühte, wie ein schwerer, kostbarer Trank in einem dunklen Gefäß.
    Nach dieser Entdeckung war ich immer wieder einmal am Frühabend an den See gegangen und hatte mich allein auf seinem Steg aufgehalten, bis die Schönheit des abendlichen Sonnenmoments mich irgendwann derart überwältigte, dass ich mich auszog und langsam vom Steg aus ins Wasser gleiten ließ.
    Am Fluss und in der unmittelbaren Nähe der Gastwirtschaft hätte ich es nie gewagt, mich nackt zu zeigen, so etwas war ganz ausgeschlossen, niemals hätte ich meine Scham überwunden, die vielleicht noch stärker und empfindlicher war als die Scham vieler Frauen, die sich während des Nacktbadens gut versteckten und genau darauf achteten, dass sie von keiner Stelle des Flusses aus beobachtet werden konnten.
    Ein so schamhaftes Verhalten wurde von allen anderen Schwimmern ohne lästernde oder spöttische Worte respektiert, denn am ganzen Flussstück gab es genügend Partien, an denen sich die verschiedensten Nacktbader aufhalten konnten: Solche, denen es nichts ausmachte, gesehen zu werden, solche, die auf keinen Fall gesehen werden wollten, aber auch solche, die so taten, als wollten sie nicht gesehen werden, und doch von vielen Stellen aus leicht gesehen werden konnten.
     
    Am liebsten hätte ich mich den anderen Jungen angeschlossen, die ohne die geringsten Hemmungen nackt badeten, aber, wie gesagt, es ging nicht, ich war noch nicht so weit, ich war noch viel zu sehr an das Verhüllen, Verbergen und Mich-Verstecken gewöhnt. Hinzu kam, dass auch Vater anscheinend nicht daran dachte, nackt zu baden. Bevor er ins Wasser ging, zog er sich vielmehr umständlich in unserem Zimmer um, und dann erschien er wie ein geübter Rettungsschwimmer mit allerhand Zeichen und Emblemen auf der Badehose und einem großen Badetuch um den Hals, um sich nicht einfach in der Strömung treiben zu lassen, sondern mit großem körperlichen Einsatz so schnell zu kraulen, dass man annehmen musste, er wolle jedes Mal einen neuen Rekord aufstellen.
     
    Jener Abend jedoch, als ich mich zum ersten Mal auszog, war einfach zu schön, als dass ich lange Überlegungen hätte anstellen wollen. Und warum denn auch? Bisher hatte ich niemanden unten in der Talsohle an dem kleinen See gesehen, niemand kannte anscheinend dieses Gelände, selbst Vater hatte ja während unseres gemeinsamen Spaziergangs so getan, als lohnte es sich nicht, dieses Gelände aufzusuchen und als käme es nicht einmal für irgendwelche Nachforschungen in Betracht.
    Ich war also allein und unbeobachtet, die Sonnenstrahlen berührten die ruhige Oberfläche des Wassers, langsam ließ ich mich sinken und fallen und schloss unter Wasser die Augen. Es war ein unglaublich schöner, dichter und schwereloser Moment, keine aufdringlichen Geräusche waren zu hören, vielmehr befand ich mich in einer schalldichten Welt, einer Welt des herrlichen Schweigens, wie ich es mir intensiver nicht hätte vorstellen können.
     
    Das war es! Nach genau diesem Schweigen hatte ich mich gesehnt, es war ein Schweigen, das mir vorkam wie ein Schweigen im weiten All, fern von der Erde und allen ihren Klängen und Sprachen! Ein solches Schweigen war wie für mich gemacht, es gehörte zu meiner Welt, in ihm fühlte ich mich aufgehoben, denn in ihm gab es nichts anderes mehr, keine Gegenstimmen, keine Verbote, keine Kommentare, einfach nichts außer dem Schweigen selbst, das etwas Großes und Feierliches hatte, wie das Schweigen der Menschen während der Gottesdienste im Dom!
     
    Ich hielt die Luft an und versuchte, die Augen zu öffnen. Durch meine zusammengepressten Lider erkannte ich das ruhige, flimmernde Grün des Wassers, kompakt und porös wie eine Blase Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt. Es war ja so leicht,

Weitere Kostenlose Bücher