Die Erfindung des Lebens: Roman
in Programmen geschulten Vater gegenüberzustehen. Dieser Vater ist darin geübt, sich den Zugang zu einem Problem durch ein Ausschließungsverfahren zu ebnen. Wenn dieses oder jenes gilt, dann gilt dies oder jenes nicht. So ist das und nicht anders. Der Junge kann dieses oder jenes, unter diesen oder jenen Bedingungen. Sonst geht es nicht, sonst geht es auf keinen Fall.
Ich sehe, wie es Vater allmählich dämmert. Er nimmt sich erneut ein Blatt vor und schreibt auf das Blatt: Das ist Roggen. Er zeigt mir den Satz und liest ihn laut vor, dann dreht er das Blatt um und bittet mich, den Satz hinzuschreiben. Als ich den Bleistift ansetzen will, bemerke ich sofort, dass ich den Satz nicht mehr im Kopf habe. Ich sehe den Satz nicht, er ist verschwunden, mein Gehirn hat den Satz nicht gespeichert, sondern sofort wieder gelöscht. Warum tut es das? Warum kann ich mir den Satz nicht einprägen wie die anderen Sätze?
Als ich auf das leere Blatt starre und mir die Worte nicht einfallen, beginne ich plötzlich heftig zu weinen. Ich weine, weil ich Vater um keinen Preis enttäuschen will. Gerade ging alles noch gut, gerade wurde ich noch von ihm gelobt, jetzt aber ist alles schon wieder vorbei, und mein Kopf ist der blöde Kopf, über den sich meine Mitschüler immer so lustig gemacht haben. Ich schmeiße den Stift auf den Boden, ich gebe auf, wahrscheinlich bin ich eben doch der Idiot, für den man mich in der Schule immer gehalten hat.
Aber ich sehe meinen Vater, wie er mich regungslos anstarrt, als dämmerte es ihm weiter. Neinnein! , sagt mein Vater, neinnein, Johannes! Du brauchst nicht zu weinen, es ist alles in Ordnung! Jetzt beruhige Dich und mach genau, was ich Dir sage, hörst Du? Wir sind der Sache jetzt auf der Spur, wir sind nahe dran, jetzt geben wir beide nicht auf, jetzt schaffen wir es!
Vater bückt sich und drückt mir den Stift in die Hand, Vater steht da mit angehaltenem Atem und überlegt. Jetzt machen wir noch ein Experiment, sagt Vater, jetzt machen wir ein anderes, schwieriges Experiment! Streng Dich an und denk an nichts anderes! Denk nur daran, was ich Dir sage!
Ich will gehorchen, ganz unbedingt, ich wische mir die Tränen ab und stehe still. Vater ist dabei, das Rätsel meines Idioten-Kopfes zu lösen, Vater ist ganz nahe dran! Was aber kommt jetzt? Was soll ich tun?
Johannes! Ich singe Dir jetzt den Anfang des kleinen Chorals vor, den Du heute morgen gespielt hast. Du weißt, was ich meine? Ich meine den kleinen Choral, den Du jeden Morgen als Erstes spielst.
Ja, ich weiß, ich weiß, was Vater meint. Manchmal singt Vater diesen Choral in der Kirche, auch Vater kennt diesen Choral bis in die letzte Note, er singt ihn sehr laut und mit großer Andacht, es ist einer von Vaters Lieblingschorälen. Ihm zuliebe spiele ich diesen Choral manchmal morgens als Erstes, und meist kommen dann noch einige von seinen Verwandten hinzu und hören sich den Choral an und schlagen das Kreuzzeichen, bevor sie nach draußen gehen.
Onkel Hubert hat gesagt, der Choral sei unser Morgengebet, ich solle ihn ruhig weiter an jedem Morgen spielen. Ein gespielter Choral ist besser als ein Gebet, denn vielen auf dem Hof fällt das Beten außerhalb der Kirche nicht leicht. Es ist ihnen peinlich, in der Gastwirtschaft oder draußen im Garten zu stehen und zu beten, deshalb kommt der Choral ihnen gelegen. Sie hören zu und beten still mit, dann gehen sie zur Arbeit, den Text des Chorals wie ein stilles Gebet noch im Kopf.
Ich nicke, ich weiß, welchen Choral Vater meint. Und dann höre ich Vater singen, diesmal nicht sehr laut, sondern verhalten: Jesu bleibet meine Freude, Jesu bleibet meine Zier …
Schon als Vater mit dem Singen beginnt, nicke ich wieder. Ich habe verstanden, es ist alles klar, ich weiß genau, welchen Choral Vater meint. Was aber kommt als Nächstes? Was will Vater mit diesem Choral?
Nach dem Singen der ersten Takte des Chorals nimmt Vater erneut ein Blatt Papier. Ich sehe, wie er einige Striche untereinander zieht, einen, zwei, noch zwei, noch einen, Vater hat fünf Striche gezeichnet, ich habe genau mitgezählt. Dann dreht er das Blatt um und reicht es mir: Johannes! Das sind Notenlinien. Du kennst solche Linien, es sind fünf, das weißt Du. Kannst Du die Noten zu dem Choral hinschreiben, den ich gerade gesungen habe, kannst Du das etwa? Was soll ich?! Ich soll die Noten aufzeichnen, die zu dem Choral gehören? Die Noten, die ich spiele, wenn ich den Choral spiele?
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