Die Erfindung des Lebens: Roman
merken. Wenn die Buchstaben und Worte unter einer Zeichnung oder einem Bild standen, konnte ich mir sogar jede Einzelheit merken. Ich stellte mir einfach die Zeichnung vor, die Zeichnung der Eiche, wie sie da mit ihren leicht verkrüppelten Ästen und Zweigen wie eine leicht aus den Fugen geratene Skulptur vor mir auftauchte! Zu genau dieser Zeichnung gehörte der Satz Das ist eine Eiche . Eine Zeichnung, vier Worte, ein Punkt. So war das, und es war wirklich ganz einfach.
Komm mal mit! , sagte Vater und stand sofort auf. Er schaute in die Umgebung, und dann gingen wir rasch durch die ins Tal abfallenden Eichenwälder und kamen schließlich unten an dem kleinen Fluss an, der auf unseren Hof zufloss. Siehst Du die Bäume da drüben?, fragte Vater, und ich nickte. Das sind Buchen , sagte Vater, geh hin und setz Dich neben sie und zeichne eine Buche! Und dann bringst Du mir Dein Blatt!
Jetzt ging es voran, jetzt, dachte ich, geht es voran, jetzt habe ich alles verstanden, jetzt lerne ich schreiben, lesen und zeichnen, jetzt lerne ich alles. In ein paar Tagen werde ich das alles können, alles, einfach alles! Ich werde Vater beweisen, dass es Spaß macht, mit mir unterwegs zu sein, ich werde die Namen aller Bäume und Pflanzen lernen, ich werde lernen!
Ich setzte mich neben eine Buche und betrachtete sie genau: Die Stämme waren viel glatter und schwerer als Eichenstämme, sie steckten massiv in der Erde, und die Äste breiteten sich aus wie Schwingen, so weit und leicht! Und dann die Blätter! Nicht dieses gezackte Geripp, sondern spitz zulaufende Zungen mit feinen Maserungen! Ich musste nur genau hinschauen, dann war es einfach, eine Buche genau zu zeichnen.
Als ich fertig war, brachte ich Vater das Blatt, er warf einen Blick darauf, dann sagte er Donnerwetter, das ist wirklich gut, gut so!, und dann schrieb er unter meine Buche: Das ist eine Buche. Vier Worte, ein Punkt. Danach aber zeichnete er noch im Stehen ebenfalls eine Buche und reichte mir das Blatt, und ich schrieb unter Vaters soeben gezeichnete Buche: Das ist eine Buche.
Ich sehe Vater vor mir, wie er einen kleinen Schritt zurück macht und mich anschaut, ich sehe, wie er sich mit der rechten Hand über den Kopf fährt, als wäre er ins Schwitzen geraten oder als wollte er die zerzausten Haare wieder glatt streichen. Und ich höre ihn wie damals, wie genau in diesem Moment, sagen: Moment mal!
Ich stehe ihm kaum einen Meter gegenüber, ich lasse die Arme hängen, in meinem Kopf tobt es ein wenig, aber ich will mich jetzt unbedingt beherrschen und keinerlei Schwäche zeigen. Vater hat Moment mal! gesagt, das verstehe ich gut, denn auch ich habe so ein Moment mal! im Kopf. Zum ersten Mal habe ich eine Reihe von Worten ordentlich und dazu noch aus dem Kopf aufgeschrieben. Ich habe sie aufgeschrieben, jawohl, ich habe sie aber keineswegs abgeschrieben, nein, ich kann anscheinend Worte aufschreiben, wenn ich die dazugehörenden Gegenstände vor mir sehe, ich kann aber keine Worte von irgendwo, zum Beispiel von einer Schultafel abschreiben, weil ich sie dann nicht richtig erkenne und erst recht nicht verstehe …
Was ich hier nachvollziehe, ist das geheime und allen anderen bisher verborgen gebliebene Programm meines Gehirns. Es ist ein Programm, das die meisten anderen Kinder nicht haben, es ist ein gestörtes, unübliches, aber keineswegs unbrauchbares Programm. Man kann mit diesem Programm etwas anfangen, man muss es nur genau kennen. Spricht man mich auf dieses Programm an, arbeite ich sehr genau und exakt, fordert man mich auf, mit diesem Programm zu arbeiten, arbeite ich wie ein Teufel.
Das Problem ist nur, dass ich dieses Programm natürlich nicht genau kenne. Ich begreife nicht, was in meinem Gehirn geschieht, ich weiß nicht, wie es gebaut ist und was es kann und nicht kann. Nun aber steht mir mein Vater gegenüber, der gerade einige Strukturen und Zusammenhänge dieses Programms zu erkennen und zu begreifen scheint. Moment mal! , hat er gesagt, und jetzt arbeitet es in ihm. Ich sehe es deutlich, und ich halte still, als stünde ich da, um fotografiert oder geröntgt zu werden.
Der Blick meines Vaters! Ich sehe ihn, wie er auf mir ruht und wie es im Kopf meines Vaters arbeitet. Was ist mit dem Kind? Wie stellt das Kind sich etwas vor? Wie begreift es? Wieso kann es plötzlich schreiben, nachdem es wochenlang nur gekritzelt und keinen vernünftigen Satz geschrieben hat?
Ich habe das Glück, einem mathematisch und daher
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