Die Erfuellung
nie. Aber mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, ist Verwalter auf einer Farm in Sussex.«
»Und Ihr Vater?«
»Der ist Buchhalter.«
Mrs Batley schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Buchhalter«, meinte der alte Shane. »Das ist doch ein schöner Beruf, da macht man sich nicht die Hände schmutzig und muss auch nicht in Regen, Hagel und Schnee vor die Tür und sich den Wind um die Nase pfeifen lassen. Was wollen Sie denn hier bei uns?«
»Ich mag Tiere und habe meine Ferien immer bei meinem Onkel und meiner Tante auf dem Bauernhof verbracht.«
Niemand äußerte sich dazu, aber Ralph Batley rutschte offenbar auf seinem Stuhl herum, denn der schrammte plötzlich über den gebohnerten Boden.
»Wenn niemand mehr etwas möchte, schlage ich vor, dass wir uns in die Kaminecke setzen«, warf Mrs Batley ein.
»Ich helfe Ihnen beim Abräumen.«
Mrs Batley nahm Lindas Angebot wortlos an. Mit einem Tablett voller Geschirr folgte sie der älteren Frau zu der Tür, durch die Ralph Batley die Halle betreten hatte. Dahinter lag eine große Küche.
Michael lief mit Tellern beladen hin und her. Jedes Mal, wenn er in die Küche kam, warf er Linda einen schüchternen Blick zu, was sie ebenso rührend wie amüsant fand.
Als sie wenig später das Geschirr abtrocknete, das Mrs Batley abgewaschen hatte, und fieberhaft überlegte, wie sie das lastende Schweigen brechen konnte, sagte Mrs Batley leise, aber überraschend abrupt: »Waren Sie im Haus?«
»Bei den Cadwells meinen Sie?« Linda sprach ebenfalls sehr leise.
»Ja.« Mrs Batleys Hände flatterten nervös.
»Ich war in der Halle.«
»So?« Die ältere Frau stieß ihre Hände mit einer heftigen Bewegung ins Wasser. »Und jetzt vergleichen Sie die Einrichtung wohl mit unserer?«, fuhr sie verbittert, aber ohne die Stimme zu erheben fort. »Wir haben leider weder kostbare Teppiche noch Stilmöbel.«
Linda sah Mrs Batley an, die nun geräuschvoll das Porzellan in die Schränke räumte.
Sie fühlte sich nicht beleidigt, sondern spürte eher Mitleid mit dieser Frau. Daher entschied sie sich für eine barmherzige Lüge. »Die Einrichtung ist mir gar nicht aufgefallen. Ich weiß nur noch, dass in der Halle auch eine Treppe und eine Galerie waren. Aber ich kann Ihnen sagen, dass Boden und Möbel nicht so glänzen wie hier.«
Das war die reine Wahrheit, aber sie hätte es auf jeden Fall gesagt, denn die Frau vor ihr brauchte Trost, das spürte Linda. Von ihr ging eine Einsamkeit aus, die eine Saite in Lindas Herz zum Klingen brachte, denn trotz ihrer Jugend kannte sie dieses Gefühl nur allzu gut. In ihrem Elternhaus hatte sie nie ungetrübte Zuneigung kennen gelernt. Ihr Vater war so eifersüchtig, dass ihre Mutter sich scheute, ihrer Tochter in seiner Gegenwart ihre Liebe zu zeigen. Schon vor vielen Jahren hatte Linda begriffen, dass ihr Vater nie Kinder hätte haben sollen. Für Linda war es sehr schmerzlich gewesen, zu erkennen, dass es ihren Eltern ohne sie besser ging. Ihr Vater war ein völlig anderer Mensch, wenn er ihre Mutter nicht mit seiner Tochter teilen musste. Wer die Einsamkeit kannte, sah sie auch in anderen.
Mrs Batleys Bewegungen waren ebenso nervös und hektisch wie ihre Stimme. Jetzt nahm sie ihre Schürze ab und strich das in der Mitte gescheitelte Haar mit beiden Händen glatt. »Kommen Sie, wir setzen uns ins Wohnzimmer«, sagte sie, ohne auf Lindas Kompliment einzugehen.
In diesem Augenblick erschien Ralph Batley in der Küche. Ohne seine Mutter und Linda eines Blickes zu würdigen, ging er schnurstracks zur Hintertür, schlüpfte in die dort hängende Jacke und war schon auf dem Weg nach draußen, als seine Mutter fragte: »Wird die Kleine es schaffen?«
Einen Augenblick lang hegte Linda den entsetzlichen Verdacht, dass sich die Frage auf sie bezog. Doch dann kam die Antwort »Die wird schon wieder«, und sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es ging um das Kalb. Ob sie selbst es schaffen würde, musste sich erst noch erweisen.
Zum ersten Mal entdeckte Linda den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht von Mrs Batley, als die ältere Frau sich zu ihr umwandte und sagte: »Zumindest ein Grund zur Dankbarkeit.« Es klang, als wäre das Kalb ein kostbarer Schatz, nicht nur ein Stück Vieh.
Im Wohnzimmer hatte der alte Shane die Füße vor dem prasselnden Feuer ausgestreckt, hievte sich jedoch bei ihrer Ankunft sofort aus seinem Sessel. »Setzen Sie sich«, meinte er galant. »Das ist der beste Platz im ganzen Haus.«
»Nein, nein, ich setze
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