Die Erfuellung
schien, er wirkte, als hätte er sein Innerstes, seine Seele verloren.
Als Shane sein Garn zu Ende gesponnen hatte, saß der Junge schon lange zu seinen Füßen. »Ja, Michael«, sagte der Alte zu ihm, »wenn mein Maultier nicht plötzlich gelahmt hätte, dann hätte ich mir mein Goldclaim abgesteckt und wäre heute der reichste Mann der Welt, das sage ich dir.« Er lehnte sich zurück. »Meine Kehle ist schon wie ausgedörrt vom vielen Reden.« Er deutete auf die Uhr. »Meine Güte, wie die Zeit vergeht. Jetzt ist aber Schluss.«
»Ab in die Federn?« Der Junge sprach zwar nicht mit dem irischen Akzent des Alten, bediente sich jedoch der gleichen Ausdrucksweise.
»Allerdings, ab in die Federn!«, erwiderte Shane lachend. »Und das gilt auch für mich! Mir fallen nämlich schon die Augen zu, und wenn ich den Weg nicht so genau kennen würde, würde ich mein Bett bestimmt nicht finden.« Er tätschelte dem Jungen die Wange mit einer Wärme, die Linda sofort für ihn einnahm.
»Wasch dir die Hände und das Gesicht und trink deine Milch«, mahnte Mrs Batley, ohne ihre Arbeit ruhen zu lassen. Erst als das Kind aus der Küche zurückkam, stand sie auf. »Sag Gute Nacht!« Mit diesen Worten ging sie langsam zur Treppe.
»Gute Nacht, Onkel!« Damit stützte sich der Junge auf die Lehne des Ledersessels und gab Ralph Batley einen Kuss auf die Wange.
Der legte ihm die Hand auf den Kopf und fuhr ihm durchs Haar. »Gute Nacht, Michael«, erwiderte er leise.
Jetzt stand der Kleine vor Linda und sah sie von unten her an, wie es seine Art zu sein schien. »Gute Nacht, Miss«, verabschiedete er sich schüchtern.
»Gute Nacht, Michael.«
Sie folgte ihm und seiner Großmutter mit den Blicken, bis sie auf der Galerie verschwunden waren. Als sie sich umwandte, sah der alte Shane sie an. Seine faltigen Lider flatterten, als er ihrem Blick begegnete. »Na, dann will ich mich auch verabschieden«, meinte er.
»Gute Nacht, Mr MacNally.«
»Hören Sie bloß auf damit, Mädchen, ich heiße Shane. Wenn Sie schon einen Titel für mich brauchen, nennen Sie mich von mir aus Onkel.«
Es war unmöglich, dem alten Mann zu widerstehen. Sie strahlte ihn an. »Gute Nacht«, wiederholte sie und setzte etwas gezwungen »Onkel Shane« hinzu.
»Das gefällt mir schon besser.« Er nickte ihr zu und wandte sich dann an den Mann neben dem Kamin. »Gute Nacht, Junge.«
Gute Nacht, Junge.
Es kam ihr höchst eigenartig vor, dass jemand den grimmigen Mann in dem Ohrensessel »Junge« nannte, aber bestimmt war er vor nicht einmal zehn Jahren ein gut aussehender junger Mann gewesen, zu dem diese Anrede durchaus noch passte.
Oben an der Treppe begegnete Shane Mrs Batley und wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht. Als sie wieder nach unten kam, ging die ältere Frau nicht zu ihrem Webrahmen zurück, sondern wandte sich zur Küchentür. »Ich mache etwas zu trinken.«
Bei diesen Worten erhob sich Ralph Batley schwerfällig aus seinem Sessel, ging an Linda vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und fing an, die Klammern zu lösen, mit denen der Läufer auf dem Rahmen befestigt war. Dann rollte er ihn auf und trug ihn zu dem Schrank unter der Treppe.
Als er zum Kamin zurückkehrte, setzte er sich nicht wieder, sondern klopfte seine Pfeife aus und trat wie zuvor mit dem Fuß gegen die Scheite. Dann stellte er sich mit dem Rücken zu Linda vor den Kamin und starrte in die Flammen.
Sie wartete darauf, dass er mit ihr über ihre Stelle und die damit verbundenen Aufgaben redete. Irgendwann musste er das ja tun. Abgesehen von den wenigen Worten, die er im Kuhstall und bei ihrer Ankunft im Haus an sie gerichtet hatte, hatte er noch nicht mit ihr gesprochen. Vielleicht fand er, sie müsste die Initiative ergreifen. Verzweifelt suchte sie nach Worten, aber ihr fiel beim besten Willen kein passender Anfang ein. Zu ihrer Erleichterung kam Mrs Batley mit einer großen braunen Kanne in der einen Hand und einem Tablett in der anderen ins Zimmer.
»Der muss noch ein wenig ziehen«, sagte sie, als sie die Kanne auf den Kaminsims gestellt hatte. Dann faltete sie die Hände über ihrem Bauch und wurde zum ersten Mal an jenem Abend ganz ruhig. »Dann wünsche ich Ihnen eine angenehme Nacht«, verabschiedete sie sich von Linda. »Schlafen Sie gut.«
Linda erhob sich. »Danke, Mrs Batley, das werde ich bestimmt. Ihnen auch eine gute Nacht.« Am liebsten hätte sie sich der Hausherrin angeschlossen, aber ihr war klar, dass man sie absichtlich mit Ralph Batley
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