Die Ernte
durch einen zerbrochenen Ast, der so dick war wie ihr Arm, zugehalten und das Gewicht der Blätter drückte zusätzlich gegen das Glas. Aus der Nähe sahen die Blätter so aus, als hätten sie verkrümmte blaue Venen, die wie Krampfadern eines alten Menschen aussahen.
Sie kletterte auf den Beifahrersitz, öffnete die Türe und zwängte sich ins Freie. Sie stand da und schaute auf die Eiche, ihre graue Rinde und ihre dunklen Astlöcher, die wie neugierige Augen ausschauten. Die freigelegten Wurzeln, aus der Erde herausgerissen, zitterten wie weiße Würme.
Nein. Der Baum lebt nicht, nicht in DEM Sinn des Wortes.
Sie schaute an der umgefallenen Eiche vorbei auf den Wald, der hie und da mit weißen Granitblöcken durchsetzt war. Andere Bäume lagen auf dem Boden oder waren in der Mitte durchgebrochen. Die kaputten Bäume bildeten fast eine perfekte Gerade, die den Berg hinauf führte. Die Schneise der Verwüstung führte in die Richtung des Leuchtens und sie konnte ein schwaches Glimmern zwischen den Bäumen ausmachen.
Tamara spürte eine Veränderung in der Luft, so als ob ein Sturm aufziehen würde, aber die Wolken waren dünn und durch die untergehende Sonne rötlich gefärbt. Dieses Ding, die Quelle, dieses Shu-shaaa hatte sie hierher gebracht, aber jetzt war sie alleine. Nun hatte sich das Blatt gewendet und die seltsame Kraft, die im Berg wohnte, hatte den Vorteil eindeutig auf ihrer Seite. Die Luft war wie statisch geladen und der Märzwind unheilschwanger.
Sie hätte nach Hause fahren sollen. Robert würde mit Milch und Keksen für sich und die Kinder am Küchentisch sitzen und sich über die weit fortgeschrittenen Zeiger ihrer hölzernen Kuckucksuhr ärgern. Spätestens bei den Sechs-Uhr-Nachrichten würde sich sein Gesicht vor Ärger verziehen. Er würde versuchen, nach außen hin ruhig zu erscheinen und den Kindern versichern, dass ihre Mutter wahrscheinlich nur eine Pizza fürs Abendessen holen war. Obwohl das gar nicht ihrem Naturell entsprach, einfach so ohne Nachricht abzuhauen und kein Handy mitzuhaben.
Sie blickte auf die Schatten des Waldes, die immer länger wurden. Kleine Tiere zwitscherten in den Ästen und die Bäume schienen vor Schmerz zu ächzen. Rote Knospen und hellgrüne Zweige streckten sich in schmerzvoller Geburt der untergehenden Sonne entgegen. Bäume brüllten in den Himmel, so als würden sie am lebendigen Leib verbrennen. Sogar der lehmige Boden schrie unter der festen Umklammerung der Wurzeln auf.
Der BERG -
spricht -
nicht -
mit MIR.
Tamara presste ihre Hände auf die Ohren, um so den Ruf der Wildnis abzublocken. Aber die Stimme war schon in ihr, umkreiste ihren Verstand und spann ein feinfaseriges Netz in ihrer Psyche. Sie lehnte sich gegen ihren Toyota. Helle Punkte tanzten hinter ihren geschlossenen Augenlidern. Die Stimme in ihr hatte sich mit dem Chor des brüllenden Waldes in perfekter Harmonie vereint.
Sie fiel auf dem von Unkraut überwuchertem Straßenrand auf die Knie. Wegen dem Ächzen der knöcherigen Äste, dem Heulen der Büsche, dem Glucksen des Baches und dem Wehen des Farns hörte sie die sich nähernden Schritte, die sich durch das Laub pflügten, nicht. Aber sie musste sie gar nicht hören, denn sie konnte sie fühlen.
Sie blickte auf, nur um über sich einen Teenager zu sehen. Er hatte schwarze Haare, eine Jacke der Chicago Bulls und einen starken Kiefer, ein typischer Teenager, der hier plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war – normal, alltäglich, jedoch völlig unnatürlich, denn sein Fleisch war aufgedunsen und feucht. In seinen Augen, die grün und leer glitzerten, blitze eine Drohung auf. In seinem fröhlichen Grinsen, das seine verfaulten Zähne offenbarte, konnte sie Zärtlichkeit herauslesen. Und jetzt befummelte er sie mit metallenen Händen.
Er war ein Teil der inneren Stimme, ein Teil von dem, was an ihrem Verstand genagt hatte. Und jetzt war sie in seinem Gehirn, nur dass sein Gehirn aus Matsch und Schleim war. Ein Name, ja, "Shu-shaaa" war sein Name und dazu auch noch "Wade". Aber das ergab keinen Sinn. Im Moment machte ja überhaupt nichts mehr Sinn. Kein Sinn, nur mehr Sinneswahrnehmungen.
Und sie hatte den Eindruck, dass es besser wäre, aus seiner Reichweite zu verschwinden, denn er war dabei, ein Angebot zu machen. Ein Opfer. Sie sollte das Opfer sein.
Dann war seine Hand plötzlich auf ihrer Schulter, zerrte am Stoff ihrer Bluse, striff ihren BH-Träger von der Schulter und entblößte sie so im untergehenden
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