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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thymian Bussemer
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Letztlich blieb von Kohls politischer Gesinnung nur das halsstarrige Festhalten am Vorrang seiner Partei vor allem anderen, das nun freilich nicht mehr so recht in die Zeit passen wollte. Im März 1998 brachte er es noch einmal auf den Punkt: »Wir dürfen unser schönes Land, unsere Republik, nicht in die Hände dieser Leute geraten lassen.« 64 Gemeint war die SPD.
    Gerhard Schröder, der Medienkanzler
    Die rot-grüne Bundesregierung, die 1998 ihr Amt antrat, war das erste Kabinett, das (nach wenigen Monaten Interimszeit in der alten Bundeshauptstadt Bonn) von Berlin aus regierte. Es ist kein Zufall, dass ihr Chef Gerhard Schröder zum ersten Medienkanzler der Republik wurde und die sieben Jahre Rot-Grün insgesamt einen neuen Schub Richtung Mediengesellschaft bedeuteten. Schröders politische Karriere zeichnete von Anfang an ein geschicktes Spiel über Bande mit den Medien aus. Auf seinem Weg nach oben nutzte er die Medien zunächst, um sich mit ihnen gegen das Parteiestablishment der SPD zu profilieren. Als neuer Kanzler agierte er so medienzugewandt wie kein deutscher Regierungschef vor ihm. Im zweiten Teil seiner Kanzlerschaft ignorierte er dann die Journalisten und benutzte Medienkanäle – allen voran das Fernsehen –, aber auch große Versammlungen, um über die Köpfe der Journalisten hinweg direkt zu den Leuten zu sprechen. Aus dem Medienkanzler war zu diesem Zeitpunkt ein Presseverächter geworden, der sich geschickt das Misstrauen der Menschen gegen die Medien zunutze machte. »Glaubt denen nicht«, donnerte er im Wahlkampf |98| 2005 von allen Marktplätzen der Republik und meinte damit die Medien. Die Volatilität der Journalistenmeinungen, nicht etwa des Elektorats, erschien dem Kanzler so hoch, dass es aussichtsreicher war, mit dem Volk direkt zu sprechen. »Kein Korrespondent«, notierte die einflussreiche Hauptstadtkorrespondentin Tissy Bruns, »der nicht irgendwann einmal mit dem ärgerlichen Gefühl in einer Pressekonferenz mit Schröder sitzt: Zweihundert Kollegen traktieren den Kanzler mit scharfsinnigen Fragen – und der befindet sich derweil, über ihre Köpfe hinweg, die Augen in die Kameras gerichtet, im gepflegten Gespräch mit den deutschen Wohnzimmern.« 65
    In beiden Rollen, als Presseliebling und als Journalistenfresser, gelang es Schröder, souverän zu agieren. Schon als niedersächsischer Ministerpräsident spielte er 1993 sich selbst in dem Fernsehfilm
Der große Bellheim
. 1995 trat Schröder gemeinsam mit seiner damaligen Frau Hillu bei
Wetten, dass …?
auf, 1997 war er Gast bei
Gottschalks Hausparty
. Im Sommer 1998, auf dem Höhepunkt seiner Kanzlerkandidatur, spielte Schröder in einer Jubiläumsfolge der Seifenoper
Gute Zeiten, schlechte Zeiten
einen wahlkämpfenden Politiker. Seine Rolle bestand darin, zufällig auf einen Polterabend zu geraten. In Anspielung auf seine eigenen Ehen ironisierte er: »Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit, ich weiß, wie schwer das ist.« Sechs Millionen Zuschauer sahen Schröder in dieser Rolle. 66 Ein Meisterstück des politischen Spin war jenes große
stern
-Interview, das Schröder 1997 anlässlich der Scheidung von seiner dritten Ehefrau Hillu gab. Ihm war klar, dass eine erneute Trennung, noch dazu ein Jahr vor der Bundestagswahl, seine Chancen als Kanzlerkandidat beeinträchtigen könnte. Deswegen ging er, als die Scheidung des Ehepaars feststand, sofort in die Offensive und gab ein Herz-und-Schmerz-Interview, mit dem er auf einen Schlag kommunikative Hoheit über seine Eheprobleme gewann. Sein |99| Vizekanzler Joschka Fischer hielt es bei seinen Ehekrisen ähnlich.
    Die Flucht des rot-grünen Spitzenpersonals in die Arme der Unterhaltungsmedien hatte zwar manchmal einen Hauch von Peinlichkeit, versprach aber insgesamt einen liberaleren Umgang mit der Presse, als er in der alten christlich-liberalen Koalition gepflegt worden war. Tatsächlich zeichnete sich Rot-Grün am Anfang auch in politischen Fragen durch eine höhere Offenheit aus, als sie die späte Regierung Kohl in ihrer Wagenburgmentalität praktiziert hatte. Zudem brachten viele Mitglieder von Schröders Kabinett politische Biografien mit, die ihren Weg an die Spitze der Macht besonders interessant erscheinen ließen und so für eine stark personalisierte Berichterstattung sorgten. Recht bald aber bezahlte Rot-Grün diese neue Offenheit mit herber Medienkritik an dem angeblichen Regierungschaos, die bei Schröder, Fischer und Schröders Sprecher Uwe-Karsten Heye zu der

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