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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thymian Bussemer
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auf das angestrebte Amt als oberster Diplomat des Landes vorzubereiten und die Öffentlichkeit |102| durch staatstragende Reden, Essays und Bücher darüber zu unterrichten. Der Vergleich von Joschka Fischer und seinem Ministerkollegen Jürgen Trittin macht übrigens die unterschiedlichen Strategien deutlich, die Politiker beim öffentlichen Umgang mit ihrer Biografie und ihrem Privatleben einschlagen können: Trittin, der eine ähnliche politische Vita wie Fischer hat, amtierte sieben Jahre als Bundesumweltminister, ohne dass nennenswerte private Details nach außen drangen. Wenn die Springer-Presse ihn angriff, was vor allem wegen seiner Rolle im Zusammenhang mit dem Mescalero-Aufruf aus den 1970er-Jahren der Fall war, kamen kurze Dementis aus dem Umweltministerium oder Trittins Anwälte übernahmen die Sache. Mehr hörte man nicht. Fischer dagegen machte aus seinen politischen wie privaten Irrungen und Wirrungen ein politisches Gesamtkunstwerk. An jedem Kilo mehr oder weniger auf seinen Hüften ließ er die Öffentlichkeit teilhaben, und immer hatte man das Gefühl, dass Fischers aktuelles Gewicht auch etwas mit den Sorgen des Außenministers und dem Zustand Deutschlands zu tun hatte. So wenig es Fischer gelang, dauerhaft sein Gewicht zu balancieren, so sehr hatte er jedoch ein Händchen dafür, wie viel Privatklatsch er dem bürgerlichen Publikum zumuten konnte, ohne es zu nerven. Seine schillernde Biografie machte ihn zur idealen Projektionsfläche der alternden 68er-Generation, die sich mit ihm – der es vom wütenden Steinewerfer zum allwissenden Minister gebracht hatte, ohne seine alten Grundüberzeugungen je ganz zu revidieren – gut identifizieren konnte. Sogar die öffentliche Verarbeitung des Scheiterns seiner dritten Ehe in seinem Jogging-Buch
Mein langer Lauf zu mir selbst
aus dem Jahr 1999 verzieh ihm sein Mittelschichtenpublikum, da es in der Mischung aus Lebenskrise, bekenntnisschwangerem Idealismus, Diätzwang und Hochleistungsorientierung genügend Identifikationsmöglichkeiten bot.
    |103| Während Gerhard Schröder als Kanzler (und auch danach) seiner vierten Ehefrau Doris Schröder-Köpf die Treue hielt, wechselte Fischer auch im Amt, scheinbar spielend, die Lebensabschnittsgefährtinnen. Seiner Popularität schadete dies nicht. Doch auch Fischer veränderte sich während der Regierungszeit. Zweimal setzen ihm die Medien richtig zu, fuhren große Kampagnen gegen den Publikumsliebling. Die erste generalstabsmäßig inszenierte Attacke auf den Außenminister ging von Bettina Röhl aus, der Tochter von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl. Sie entfachte durch Fotos, die sich in ihrem Besitz befanden und Fischer als Steinewerfer im Frankfurter Westend zeigten, eine große Debatte über das Verhältnis Fischers zur politischen Gewalt. Es war die Abrechnung des in der Opposition befindlichen bürgerlichen Lagers mit den regierenden 68ern – wenn sie auch durch die Tochter einer Terroristin und eines einst von der DDR finanzierten Verlegers ausgelöst worden war.
    Die zweite Kampagne gegen Fischer war die sogenannte Visa-Affäre. Es ging hier um die zu lasche, mit manchen Unregelmäßigkeiten behaftete Visa-Vergabepraxis an einigen deutschen Botschaften und Konsulaten. Warum der Außenminister persönlich dafür verantwortlich sein sollte, wurde nie so ganz klar. Vor allem ein Dokument aus dem Auswärtigen Amt mit dem Stempel »Hat dem Minister vorgelegen« wurde zum Belastungszeugnis gegen Fischer. Doch trotz einer vielstündigen Befragung im eigens eingerichteten Untersuchungsausschuss (diese wurde – ein Novum – live im Fernsehen übertragen) gelang es Medien und Opposition nicht, den Minister zur Strecke zu bringen. Rückblickend erscheint diese Affäre als reichlich unbedeutend. Dass sie so große Wellen schlagen konnte, hat vermutlich vor allem einen Grund: Fischer war zu diesem Zeitpunkt der Tagespolitik so weit entrückt, dass banale Mängel bei |104| der Organisation seines Geschäftsbereichs sich mit dem Eindruck eines längst in höhere Ebenen entschwebten Ministers deckten. Bei Fischer hinterließen diese Angriffe Spuren. Sein ambivalentes Verhältnis zu den Medien kam auch in dem Abschiedsauftritt zum Ausdruck, den Tissy Bruns so schildert: »Im Herbst 2005 steigt Fischer vor den Augen vieler Journalisten auf der Fraktionsebene des Reichstags in den Fahrstuhl. Die Tür schließt sich, und Fischer verabschiedet sich von der Macht mit einem sanften ›Ciao, ragazzi‹.« 70
    Immerhin:

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