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Die erregte Republik

Die erregte Republik

Titel: Die erregte Republik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thymian Bussemer
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gekommen sein konnte. Die erste lautete, prominente Koalitionsmitglieder hätten den Verrat begangen, um Brandts Ostpolitik zu hintertreiben. Die zweite mutmaßte, Gegner des Vertrags in der DDR oder im westlichen Ausland hätten es weitergereicht. Die dritte Version lautete, subalterne Ministeriumsmitarbeiter könnten aus unterschiedlichen Ursachen – etwa politischer Nähe zur CDU, Bestechung oder Erpressung – die Geheimhaltungspflicht verletzt haben. Zwei Abgeordnete der Union, Karl Theodor zu Guttenberg und Werner Marx, die beiden erbittertesten Gegner der Ostpolitik, hatten schon zuvor ein weitgehend mit dem Bahr-Papier identisches Dokument aus der Feder Gromykos veröffentlicht, das beweisen sollte, dass Bahr sich viele Standpunkte Gromykos zu eigen gemacht hatte, ohne die deutschen Interessen zu berücksichtigen. Im August 1970, einen Tag vor der Unterzeichnung des Abkommens im Kreml, kam es dann zur Vorabveröffentlichung des Moskauer Vertragstextes in
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und
Welt
. Kopien des Textes waren im Kabinett nur vorgelegt und dann wieder eingesammelt worden. Sieben Mitglieder der CDU/CSU dagegen hatten den Vertrag ausgehändigt bekommen. 59
    Vor allem die
Quick
aus dem Heinrich-Bauer-Verlag, Springers
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-Zeitung und das
ZDF-Magazin
von Gerhard Löwenthal erwiesen sich als unversöhnliche publizistische Gegner, die |93| Brandts Aussöhnungspolitik immer wieder durch Geheimnisverrat und Indiskretionen zu Fall bringen wollten. Von daher markiert die Ostpolitik in der bundesdeutschen Beziehungsgeschichte von Politik und Medien einen wichtigen Wendepunkt: Erstmals verorteten sich die Medien eindeutig und unverrückbar für bzw. gegen ein politisches Großprojekt und nutzten kampagnenhaft alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um auf den Verlauf der Entwicklung einzuwirken. Die Medien wurden so zum direkten politischen Machtfaktor – und trieben damit die Entwicklung in Richtung Mediendemokratie ein weiteres Stück voran.
    Helmut Kohl, der ewige Kanzler
    Vermutlich wäre die volle Entfaltung dieser medialen Machtkräfte noch schneller verlaufen, hätte sich ihnen in den 1980er-Jahren nicht ein wahrer Koloss entgegen gestemmt: der Kanzler Helmut Kohl. Kohl war der letzte deutsche Spitzenpolitiker, der sich, obwohl die Mediengesellschaft zu seiner Regierungszeit längst heraufgezogen war, ihrem Sog widersetzte. Kohl war der erfolgreichste CDU-Wahlkämpfer aller Zeiten – und doch alles andere als ein Medienpolitiker. Im Fernsehen machte er keine gute Figur, seine Sommerinterviews aus dem Ferienort am Wolfgangsee galten lange als Inbegriff deutscher Spießigkeit. Journalisten behandelte er oft herablassend. Doch er nötigte den Medien gerade mit dieser Haltung Respekt ab. Und er zeigte auf diese Weise, dass die scheinbar unaufhaltsame Entwicklung zur Medialisierung der Politik nicht naturwüchsig abläuft, sondern durch Gegenkräfte gebremst werden kann. Unbeirrt an seinen Positionen festhaltend war Kohl ein Solitär in der Brandung. Bei ihm waren die Dinge noch eindeutig: Entweder |94| seid ihr für oder gegen mich – das war die Grundhaltung, mit der er Journalisten entgegentrat. Dem
Spiegel
zum Beispiel gab er jahrzehntelang überhaupt keine Interviews. Aber er sorgte dafür, dass die
Spiegel
-Redaktion über den Vertrauten Eduard Ackermann von seinen wichtigsten Überlegungen verlässlich erfuhr.
    Zwischen 1982 und der deutschen Einheit regierte Kohl gegen den publizistischen Mainstream, die Verhöhnungen seiner Person in der Presse als »Birne« waren Legion. In dieser Zeit hat Kohl die Medien – wie so vieles andere auch – einfach »ausgesessen«: Die veröffentlichte Meinung war ihm egal, solange er Wahlen gewann. Seine Gegner im linksliberalen Lager verkannten Kohls Einfluss auf geradezu fahrlässige Weise. Sie bewerteten Kohl nur in den ästhetischen Kategorien von Saumagen, Strickjacke und manch verunglückter Formulierung. Jenes Milieu, das noch einige Jahre zuvor alles für politisch hielt, erging sich mit Blick auf Kohl nur in herablassender Stilkritik. Dass dieser als erfolgreicher Hegemon sechzehn Jahre lang das Land dominierte und in seinem Sinne formte, übersahen sie dabei. Denn Kohls Kritiker schauten nur auf seine äußere Performance, nicht auf seine politischen Leistungen und auch nicht auf das enge Beziehungsnetz, das er gezogen hatte, um unangefochten die Nummer Eins zu bleiben. Joachim Raschke und Ralf Tils haben in einer Ex-post-Analyse dargelegt, warum Kohl so lange so

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