Die erregte Republik
Nominierung zum ersten Fernsehkandidaten bemühte sich Brandt dann auch, die neuen Kommunikationsmittel effektiv zu nutzen. Klaus Schütz, sein Vertrauter und Nachfolger als Regierender Bürgermeister von Berlin, sowie der spätere Finanzminister Alex Möller reisten 1960 in die USA, um dort den Präsidentschaftswahlkampf Kennedy gegen Nixon zu beobachten. Zurück in Deutschland schickten sie Brandt auf eine amerikanisch geprägte Wahlkampftour, in deren |90| Verlauf der Kandidat im Sommer 1961 binnen drei Monaten 40 000 Kilometer zurücklegen und bis zu 25 Reden am Tag halten musste. Der Kanzlerkandidat der sozialdemokratischen Partei fuhr im offenen Mercedes vor, schüttelte Hände, tätschelte Kinderwangen und nahm Blumen entgegen. Die Wähler liebten den charismatischen, volksnahen und doch zugleich staatsmännisch entrückten Kandidaten, der umso vieles telegener war als sein christdemokratischer Konkurrent. Natürlich stand hinter der Inszenierung eine ausgeklügelte Choreografie: Vorauskommandos hatten bereits Wochen zuvor jeden Schritt ihres Kandidaten vermessen, jede Eventualität geprüft, jede mögliche Hürde bedacht. Plakate, auf denen Kinder mit Blumensträußen zu sehen waren, erinnerten die Leute daran, zu den Veranstaltungen rote Rosen mitzubringen. Die
Zeitschrift für Politik
hatte schon vor dem Beginn des eigentlichen Wahlkampfs eine Kampagne
à la americaine
gewittert: »Bei den Veranstaltungen wurden die obligaten Reden der Parteiführer von Kabarett und Songs mit manchmal leicht frivoler Note eingerahmt.« Egon Bahr verglich diesen Wahlkampf seines Chefs mit einem Karussell – »bunt klingelnd, dauernd in Bewegung, ohne vom Fleck zu kommen«. 57 Auch wenn immer wieder betont wird, dass schon Adenauer »amerikanische Elemente« der Wahlkampfführung eingesetzt hat (und Brandt noch acht Jahre brauchte, bis er wirklich Kanzler wurde): Die Brandt-Kampagne 1961 bedeutete einen Quantensprung im Verhältnis von Politik und Medien und rückte die Bedeutung des Fernsehens erstmals in den Mittelpunkt der Kommunikationsbemühungen von politischen Parteien.
|91| Erster Auftritt der Großpublizisten: die Ostpolitik
Eine nachhaltige Politisierung des Medienhandelns erfolgte dann zehn Jahre später, in den frühen 1970er-Jahren, im Zuge der Ostpolitik. Die Annäherung der Bundesrepublik an die einstigen Kriegsgegner im Osten polarisierte die gesamte Gesellschaft und damit auch die Medien. Es war vor allem eine jüngere Generation von sozialliberalen Journalisten, die das offene Engagement für Brandts Ostpolitik als einen politischen Auftrag begriffen und ihre Mission darin sahen, diese Politik gegen alle Widerstände zu popularisieren. Auch damals schon einflussreiche Publizisten wie Marion Gräfin Dönhoff, Theo Sommer, Rudolf Augstein, Peter Bender oder Henri Nannen warben offen für Brandts Versöhnungsprojekt. Von daher bedeutete die Ostpolitik einen klaren Bruch mit der nach 1945 von den Alliierten durchgesetzten westlichen Pressekultur, die im Journalismus einen neutralen Beobachter sah und auf die strikte Trennung von Nachricht und Kommentar Wert legte. Journalisten wollten damals mitmischen und taten es auch, wie der
Zeit
-Jour nalist Gunter Hofmann rückblickend bestätigt: »Ein beschwingendes Gefühl von Autonomie und Hineinredenkönnen beherrschte (…) das Gros der jungen Journalisten. Die vierte Gewalt, das sind wir! Überschätzte man im Überschwang, beim ›mehr Demokratie wagen‹ schreibend dabei zu sein, seine Freiheit, seinen Einfluss? Die Bonner Korrespondenten hockten eng mit der Politik zusammen, sehr eng. So sehr man auf der Hut sein wollte, sich nicht einbinden zu lassen – dabei sein wollte man auch.« 58
So geriet die Ostpolitik zum ersten großen polit-medialen
battlefield
seit der
Spiegel -Affäre
1962, denn auch die Gegner der Ostpolitik spielten über Bande und nutzten die Medien für ihre Zwecke. Im Mai 1970 veröffentlichte die
Bild
-Zeitung Teile jener |92| Niederschrift, in der Egon Bahr die Ergebnisse seiner Gespräche mit dem sowjetischen Verhandlungsführer, Außenminister Andrej Gromyko, festgehalten hatte.
Bild
erweckte den Eindruck, Brandt und Bahr seien bereit, deutsche Interessen auszuverkaufen, um zu einem Vertragsabschluss mit der Sowjetunion zu kommen. Bald darauf veröffentlichte die Illustrierte
Quick
das gesamte »Bahr-Papier«, das damals in rund 120 Exemplaren in Bonner Kreisen zirkulierte. Es gab drei Theorien, wie das Papier an die Redaktion
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