Die erregte Republik
Fischer und Schröder, auch Jürgen Trittin, Heidemarie Wiezcorek-Zeul, Herta Däubler-Gmelin und andere konnten der rot-grünen Koalition durch ihre Lebensgeschichten so etwas wie ein
grand narrative
, eine große Erzählung, verschaffen und damit zumindest teilweise die fehlende politische Strahlkraft dieses verspäteten Bündnisses kompensieren. Schröder stand für die Geschichte des Aufsteigers aus kleinsten Verhältnissen, die anderen, mit Fischer an der Spitze, vor allem für die Läuterung der einstigen Linksaußen-Gegner der Republik zu guten Demokraten – die freilich auf ihrem Weg auf die Kommandohöhen auch die Republik transformiert, sie demokratischer, toleranter und weltoffener gemacht hatten. Und das ist, wenn man sich das Personal des ersten Kabinetts Schröder anschaut, nicht nur ein Medien-Spin, sondern auch ein Stück Wahrheit. Die ständigen Aufgeregtheiten um Schröders Haare, Doris’ Hunde und Rudolfs Gräfin, die Rot-Grün jahrelang begleiteten, waren hier eher eine unvermeidliche Begleiterscheinung und ein Beweis dafür, dass die 68er ihre Eitelkeit auch in Amt und Würden nicht ablegen konnten oder wollten.
|105| Ende eines heftigen Flirts: der Wahlkampf 2005
Das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass die ursprünglich so intime Beziehung von Rot-Grün mit den Medien 2005 in die bislang größte Kollision von demokratischer Politik und unabhängiger Presse mündete, die gleichzeitig eine extreme Zuspitzung des politisierten Medienhandelns bildete. Schon 1998 war die Mehrheit der Medien der Meinung gewesen, dass »Kohl weg muss« und Schröder Kanzler werden solle. 2005 verdichteten sich solche bislang eher latenten Haltungen und Befindlichkeiten zu einer echten Medienkampagne – die sich freilich diesmal gegen den Kanzler Schröder richtete. Die Bundestagswahl sollte damals um ein Jahr vorgezogen werden, weil die rotgrüne Regierung nach dem Verlust von Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 am Rande der Auflösung stand. Das Kalkül von Schröder bestand darin, die SPD sofort nach der NRW-Wahl in eine neue Wahlkampagne zu stürzen, sie so zur Disziplin zu zwingen und vor innerer Auflösung zu bewahren. Dafür musste Schröders Koalition den Bundestag auflösen – ein verfassungsrechtlich alles andere als einfacher Vorgang, weil er eigentlich eine Art Staatsnotstand voraussetzt. Da es aber keinen anderen Weg zu Neuwahlen gab, teilte der Kanzler dem Bundespräsidenten mit, dass die Regierungsfraktionen seine Politik nicht mehr mittrügen und bat um Auflösung des Parlaments. Zwei Wochen zuvor, am 1. Juli 2005 hatte Schröder im Bundestag tief betrübt die Vertrauensfrage gestellt und diese erfolgreich verloren, nachdem er die tiefe Krise seiner Regierung rührselig beschrieben hatte. Schon am selben Abend absolvierte er seinen ersten Wahlkampfauftritt. Die
Tagesthemen
schnitten beide Berichte direkt hintereinander, so dass das Publikum zusammenhangslos einen zu Tode betrübten und einen bis zum Anschlag aufgeputschten Kanzler sehen konnte, der zu |106| dröhnender Musik mit Victory-Zeichen in den Saal einzog. Schon dies erschien vielen Kommentatoren in den Medien widersprüchlich. Aus ihrer Sicht hatte Schröder die Vertrauensfrage nur fingiert, und sie schrieben dies auch offen. Zu diesem Zeitpunkt konnte aber noch keiner ahnen, welchen Tiefpunkt im Verhältnis zwischen Politik und Presse die kommenden Monate bringen sollten.
Nach einem fulminanten Wahlkampf Schröders und nachdem die SPD am 18. September 2005 entgegen allen Voraussagen mit 34,2 Prozent ein fast genauso gutes Ergebnis wie die Union erzielt hatte, erklärte Gerhard Schröder, er sei stolz, »dass Medienmacht und Medienmanipulation das demokratische Bewusstsein nicht erschüttert« hätten. Vom »größten Zusammenprall zwischen Journalismus und Politik seit langem« sprach Bernd Ulrich, der stellvertretende Chefredakteur der
Zeit
. 71 Im Sommerwahlkampf 2005 sind nicht nur alte Freundschaften zerbrochen. Die bis heute anhaltende Diskussion um die mediale Kommentierung dieses Wahlkampfs bezieht sich einerseits auf den Umgang der Medien mit der rot-grünen Koalition, sie verweist andererseits aber auf weitergehende Fragen: Welche Erwartungen an die Medien kann die Politik bei der Vermittlung politischer Entscheidungen noch hegen? Versteht sich der politische Journalismus noch als kritischer Begleiter politischer Prozesse oder nutzt er die destruktiven Momente der Politik zu einer Totaldemontage des Politischen? Und – aus
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