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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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künstliche Klippen. Cliff zuliebe. Damit er, wenn er denn fiel, nicht tiefer fiel als maximal ein Meter achtzig.
     
    S eit meinem Treppensturz habe ich Zahnprobleme. Was heißt eigentlich impaktiert , ich bin nämlich ziemlich sicher, dass meine Zähne genau das sind. Impaktiert, erkläre ich der Sprechstundenhilfe in Dr. Overli-Domes’ Praxis.
    Sie hört auf zu tippen. Alle, fragt sie.
    Ja.
    Bitte nehmen Sie Platz.
    Ich setze mich. Im Reader’s Digest steht ein Artikel über Introvertierte. Sie werden interviewt und gezwungen, ihre größten Geheimnisse preiszugeben. Ich wollte, ich wäre introvertiert. Und hätte einen Extrovertierten, der mir diesen Zahn samt Wurzel zieht. Wo ist mein Extrovertierter.
    Da tritt Dr. Overli-Domes auch schon kahlköpfig und weißgewandet hinter einer geschlossenen Tür hervor.
    Audrey Flowers!
    Ich stehe auf.
    Ogottogott mit Fruchtkompott. Du bist ja richtig groß geworden. Oder muss ich Sie sagen.
    Nein, nein. Ich versuche, mich etwas kleiner zu machen.
    Komm.
    Ich folge ihm zu dem orangenen Stuhl. Ah, der gute alte orangene Stuhl. Das Behandlungszimmer ist unverändert, bis auf den in die Decke eingelassenen Fernseher, in dem Zeichentrickfilme laufen. Sieh einfach ein wenig fern und entspann dich, sagt er und verschwindet.
    Frohe Weihnachten, Charlie Brown! Ich gähne.
    Ich setze mich auf. Hoffentlich ist er nicht hinausgegangen, um das Röntgengerät anzuwerfen. Das haben Zahnärzte nämlich so an sich. Einfach aus dem Zimmer zu gehen und einen zu röntgen. Jetzt bitte nicht bewegen – ich bin gleich wieder da.
    Nein, nix Röntgen. Er hat sich von Ingrid nur meine Akte geben lassen.
    Wo brennt’s denn, sagt er. Man sieht dich ja nur alle Jubeljahre einmal.
    Ich war verreist.
    Das sagen alle.
    Ich erkläre ihm, ich sei gestürzt, und jetzt seien meine Zähne impaktiert.
    Gestürzt. Vom Pferd, fragt er, ohne aus meiner Akte aufzublicken.
    Nein.
    Letztes Mal war es ein Pferd.
    Ja. Aber kein Sturz.
    Hier steht: Huftiertritt ins Gesicht.
    Er sieht mir in den Mund. Schnappt nach Luft. Greift sich ans Herz. Ah ja, die Schweizer Brücke. Die Schweizer Brücke hatte ich ganz vergessen. Was für ein Prachtstück. Wenn ich mich recht entsinne, hat dein Dad für das Ersatzteil seinerzeit eine hübsche Stange Geld springen lassen. Das war weiß Gott kein Pappenstiel.
    Schnipp schnapp, machen seine Handschuhe.
    Ich starre in seine Brille. Das Schöne ist: Wenn man auf einem Zahnarztstuhl sitzt und sich nicht gerade von den Zeichentrickfilmen in der Decke ablenken lässt, hat man die seltene Gelegenheit, seinem Gegenüber lange und tief in die Augen zu schauen, ohne dass es sich dem entziehen kann. Fast scheinen seine Augen den Blick zu erwidern. Aber eben nur fast. Denn in Wirklichkeit blicken sie einem natürlich in den Mund. Sie sind ganz hingerissen von der Schweizer Brücke. Sie sind in die Schweizer Brücke regelrecht vernarrt. Und merken nicht, dass man das merkt.
    Impaktiert. Wo, fragt er.
     
    Dr. Overli-Domes flickte mich zusammen, nachdem Rambo mich getreten hatte. Dabei summte er die ganze Zeit »All I Want for Christmas Is My Two Front Teeth« und zwinkerte mir heimlich zu. Hinterher dankte ihm mein Dad, weil er die Praxis extra für mich an den Feiertagen geöffnet hatte. Und Dr. Overli-Domes sagte: Warum, in drei Teufels Namen, muss sich die Kleine auch ausgerechnet an Weihnachten von einem Gaul ins Gesicht treten lassen.
    Dr. Overli-Domes gehört zu jenen Ärzten, die zu Kindern ausgesprochen nett sind, deren Eltern aber auf den Tod nicht ausstehen können.
    Mein Dad ließ den Kopf hängen.
    Er, Onkel Thoby und Verlaine saßen im Wartezimmer und ließen den Kopf hängen.
    Ich habe Rambos Hinterhuf ausgekratzt, erklärte ich. Und »O Tannenbaum« gesungen. Dabei bin ich seinem Hinterhuf wohl etwas zu nahe gekommen.
    Dr. Overli-Domes sah lächelnd zu mir herab.
    Es war bestimmt keine Absicht, setzte ich hinzu.
    Die provisorische Brücke fühlte sich an wie eine Highway-Überführung. Riesengroß und aus Beton. Keine Sorge, sagte er. Wir bestellen dir in der Schweiz schöne neue Zähne, nicht wahr, Dad.
    Mein Dad nickte.
    Verlaine horchte auf. Es ging doch nichts über echte Schweizer Wertarbeit.
    Als ich die neue Brücke schließlich im Mund hatte, fand ich die Vorstellung, dass meine Zähne aus einem Land kamen, in dem ich nie gewesen war, plötzlich sehr, sehr komisch. Worauf ich mit dem Flugzeug im Keller das erste Mal nach Zürich flog.
     
    Jetzt sagt Dr. Overli-Domes:

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