Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
schaukelten Audrey, Linda und ich in einem gemieteten Ruderboot mitten auf dem Lake Soupçon. Linda legte den Kopf in den Nacken, damit sie Sommersprossen bekam. Audrey hatte Sommersprossen genug. Sie hielt die Riemen. Ich saß auf dem Armaturenbrett, das zwar nicht so hieß, aber was soll’s. Ich saß auf dem Armaturenbrett, streckte den Kopf über die Kante und bewunderte mein Spiegelbild im stillen braunen Wasser.
Vorsicht, Iris. Nimmst du sie mal da weg.
Linda packte mich mit beiden Händen und ließ mich in Audreys Schoß plumpsen. Ich drehte mich langsam um. Cliff war nur sehr schwer zu erkennen, er trug nämlich sein beigefarbenes ES-GEHT-DOCH-NICHTS-ÜBER-EIN-FUNDIER-TES-VORURTEIL-T-Shirt – was selbstredend ein Witz ist, den ich allerdings nicht besonders witzig finde -, das sich perfekt in die steinige Umgebung fügte. Man sah eigentlich nur das pinkfarbene Seil und Chuck am Fuß der Felswand, neben der Kühlbox.
Cliff wollte, glaube ich, eine sogenannte Traverse demonstrieren. Bei einer Traverse bewegt man sich seitlich die X-Achse entlang.
Chuck sicherte ihn. Sprich er hielt das Seil, das über eine Rolle an Cliffs Geschirr befestigt war. Kurz: Chuck hielt gleichsam Cliffs Leben in Händen, ein Umstand, der Audrey, ihren verkrampften Oberschenkeln nach zu urteilen, gar nicht behagte.
Cliff machte sich an den Aufstieg entlang der Y-Achse.
Plötzlich fiel Chuck ein, dass er Durst hatte. Was sich unschwer daran erkennen ließ, dass er plötzlich nur noch Augen für die Kühlbox hatte. Audreys Beine verkrampften sich so sehr, dass ich ihr beinahe vom Schoß gekippt wäre. Warum. Weil Chuck gegen die Regel Nummer Eins der Klettersicherung verstieß, welche da lautet: Lass die Person, deren Leben du in Händen hältst, unter keinen Umständen aus den Augen.
Und dann verstieß er auch noch gegen Regel Nummer Zwei, welche da lautet: Lass unter keinen Umständen das Seil los, wenn du das Leben eines anderen in Händen hältst.
Gefolgt von einem eklatanten Verstoß gegen Regel Nummer Drei, welche da lautet: Zische unter keinen Umständen ein kühles Blondes, während du das Leben eines anderen in Händen hältst.
Audrey legte sich in die Riemen und ruderte eilends ans Ufer.
Linda sagte: Das kann doch wohl nicht …
Aber seien wir ehrlich: Wozu war die Kühlbox da, wenn nicht, um Chuck in feinherbe Versuchung zu führen. Und hätte Cliff es nicht eigentlich besser wissen müssen. Aber, wie gesagt, stand Sicherheit für ihn nicht unbedingt an erster Stelle. Für Audrey hingegen schon. Obwohl die Chance, dass Cliff in den wenigen Sekunden, als Chuck nicht hinsah und sich anschickte, das Menschenleben, das er in Händen hielt, gegen ein Bierchen einzutauschen – nun ja, die Chance abzustürzen war nicht allzu groß, da die Kraterwände des Lake Soupçon, wie gesagt, nicht so rutschig waren, dass sich ein geübter Kletterer wie Cliff davon ernstlich aus der Ruhe hätte bringen lassen.
Audrey legte sich noch immer mächtig ins Zeug und in die Riemen. Wobei starke Arme durchaus von Vorteil sind.
Als wir das Ufer schließlich erreicht hatten oder uns selbigem so weit genähert hatten, dass Audrey ins Wasser hüpfen konnte, deponierte sie mich auf dem Armaturenbrett und stürzte auf den Fuß der Felswand zu.
Was macht sie denn da, fragte die ebenso ahnungs- wie sommersprossenlose Linda.
Audrey krabbelte bergauf. Sie stieß Chuck mit einem gezielten Hüftschwung beiseite und packte das Seil. Sie rief Cliff etwas zu, der daraufhin den Kopf wandte und die Felswand hinabstarrte. Jetzt hielten vier Hände das Seil, und aller Augen ruhten auf Cliff. Unten angekommen, drehte Cliff sich um – das T-Shirt ließ seinen albernen Spruch vom sprichwörtlichen Stapel, und Audrey ließ das Seil fallen und ging davon. Stampf, stampf, krabbel, platsch, kam sie zum Boot zurück, sammelte mich ein und marschierte zum Wagen. Im ersten Moment dachte ich, wir würden gemeinsam in den Sonnenuntergang fahren und die anderen zurücklassen. Aber nein. Das war nicht Audreys Stil. Stattdessen setzten wir uns auf die Kühlerhaube, richteten den Blick gen Himmel und warteten, bis die anderen die Ausrüstung zusammengepackt hatten. Was ewig dauerte. Der Himmel wurde dunkler, die Kühlerhaube kühler. Sie schob mich unter ihr T-Shirt. Warm genug, fragte sie.
Vierzehn Tage später kam sie mit sechs Schachteln Klettergriffen nach Hause und verwandelte unsere Wohnung in eine kleine Kletterhalle. Und unsere heimischen vier Wände in
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