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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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dahinter säumten die Wände. Das Cockpit bekam eine Windschutzscheibe. Wenn man genau hinsah, konnte man in der Ferne andere Flugzeuge am Himmel sehen.
    Und das alles nur dank Onkel Thobys langem Arm und einem Pinsel.
    Aber was ich mir am sehnlichsten wünschte, konnte er nicht malen, nämlich eine glitzernde Stadt, ein funkelndes Lichtermeer, in dem man versinken konnte. Wie New York. Oder Las Vegas. Captain Oddly flog gern und oft nach Las Vegas, das sie aus dem Fernsehen kannte. Die Lichter schillerten und flirrten. Wie die glühende Asche eines heruntergebrannten Lagerfeuers. Langsam, aber sicher fand sie Geschmack an großen, wohlbehaltenen Abenteuern.
    Sehr geehrte Damen und Herren, in Kürze beginnen wir mit dem Landeanflug auf Las Vegas International Airport. Ich möchte Sie bitten, Ihre Sitzlehnen in eine senkrechte Position zu bringen und die Sicherheitsgurte …
    Hier gibt es keine Damen, sagte Copilot Thoby und stärkte sich mit einem kräftigen Schluck.
     
    Es war so eine Art Training. Damit ich Mut zur Neugier entwickelte. Und umgekehrt. Damit ich ein Flugzeug besteigen und zu neuen Ufern aufbrechen konnte. Und wenn ich dann eines Tages tatsächlich in der Lage wäre, ein Flugzeug zu besteigen, würde ich seelenruhig, aber mit hellwachen Sinnen Platz 12A, 14A oder 21F einnehmen. Ich würde vielleicht einen eigenen Klapptisch haben. Oder ein Geheimfach in meiner Armlehne. Vielleicht aber auch nicht. Auf keinen Fall jedoch würde ich ohne Not oder gegebenen Anlass Crashhaltung einnehmen oder gar eine Schwimmweste anlegen. Und wenn es zum Schlimmsten käme, würde ich nicht untätig dasitzen wie die Zuschauer im Theater.
    Und im Falle einer echten Katastrophe – und mit Katastrophe meine ich nicht etwa einen Flugzeugabsturz, sondern, nun ja, sagen wir, ich fände mich allein, ganz allein auf einer einsamen Insel wieder – tja, dann würde ich mir wohl einfach ein eigenes Flugzeug bauen müssen. Und ich würde Starten und Landen üben. Genau wie im Keller. Und ich würde in einem weiten Kreis nach Corner Brook und wieder zurück fliegen. Denn ein Rundflug ist ja auch ganz schön. Und dann würde ich diesen Kreis erweitern. Immer weiter und weiter, bis ich den Ozean überquert habe. Denn vielleicht sitzt auf der anderen Seite des Ozeans ja noch jemand auf einer einsamen Insel fest. Und denkt, er sei allein. Aber sieh mal einer an. Da kommt sie geflogen, meine Boeing 747 mit einem großen Ahornblatt am Heck, wie eine offene Hand. Bonjour, bonjour . Und dieser Jemand hebt den Blick, beschirmt die Augen mit den Händen und sagt: Ogottogott mit Fruchtkompott. Ich bin gar nicht allein. Nein, du bist nicht allein. Und ich lege eine spiegelglatte Landung hin mit meinem Flugzeug Marke Eigenbau, steige ab, pardon, aus, und da steht er auf der Rollbahn und wartet.
    ANTONIO.
     
    Fürwahr 1 , ich weiß nicht, was mich traurig macht;
Ich bin es satt; ihr sagt, das seid ihr auch.
Doch wie ich dran kam, wie mir’s angeweht,
Von was für Stoff es ist, woraus erzeugt,
Das soll ich erst erfahren.
Und solchen Dummkopf 2 macht aus mir die Schwermut,
Ich kenne mit genauer Not mich selbst. 3
    I ch finde Shakespeares Einsatz von Exponenten, gelinde gesagt, kurios.
    Ich verrichte meinen Dienst als Lesezeichen, während Chuck beharrlich aus dem Fenster starrt. Er trägt seit drei Tagen dieselben Boxershorts. Wieder murmelt er etwas von wegen wie einladend der Willamette doch sei. Ach, Chuck. Leg doch mal’ne andere Platte auf. Fürwahr hoch eins. Was, bitte, soll das heißen.
    Beim Proben spricht Chuck die Exponenten weder mit. Noch sagt er: Ich kenne mit genauer Not mich selbst mal selbst mal selbst. Im Grunde sagt er heute eigentlich so gut wie gar nichts. Er sieht erbärmlich aus, von hinten, wie er da so am Fenster steht. Von hinten sehen eigentlich alle Menschen erbärmlich aus, aber Chuck ganz besonders.
    Man kann nicht jeden Tag den Hamlet spielen. Oder vielleicht doch. Vielleicht spielt man den Hamlet gerade dann besonders gut, wenn man nicht weiß, dass man ihn spielt. Oder wenn man den Antonio spielt. An manchen Tagen jedenfalls.
    Heute spielt er den Antonio. Aber er legt die Latte nicht so tief, dass er einen Salarino, Solario oder Salerio spielen würde. Es hat schließlich alles seine Grenzen. Als er mich eben auf die Antonio-Passage setzte, sagte er: Du bist so traurig, weil du ein Trottel bist.
    Wer, ich.
    Wie Chuck dort am Fenster steht, als ob er nur darauf warten würde, dass ihn jemand hochhebt und ihn sich

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