Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Cluedo-Punktezettel mit der Liste der Verdächtigen im Fall Wedge bei ihr aufgekreuzt sei, aber … was ist denn das für ein Geräusch, Audrey.
Nichts.
Klingt wie Glöckchen.
Ich stecke mitten in den Ermittlungen. Ich muss Schluss machen.
Aber es ist Heiligabend.
Je. Nun.
Und sie beschwört den Geist der vergangenen Weihnacht und die damit verbundene Tradition: Am ersten Weihnachtsfeiertag (nachdem die Flowers ihre Strümpfe geplündert und die Fernsehansprache der Queen verfolgt und veralbert hatten) holte sie mich immer ab, und dann fuhren wir gemeinsam erst ins Obacht-Gebäude, um die Versuchstiere zu füttern, und dann zum Stall hinaus, um Rambo zu striegeln. Und wenn ich nach Hause kam und meine Zähne noch intakt waren, saßen Onkel Thoby und mein Dad schlafend auf dem Sofa, weil ich seit sechs Uhr früh ein solches Energiebündel gewesen war, dass sie dringend Erholung brauchten. Wacht auf! Wacht auf!
Ich falle ihr ins Wort. Ich hätte keine Lust, diese Weihnachtstradition zu pflegen. Nicht heute. Und nicht mit ihr. Ich trüge mich sogar mit dem Gedanken, Weihnachten künftig ganz ausfallen zu lassen. So tief sitzt der Schmerz. Darum wäre es mir lieb, wenn wir das Obacht-Gebäude auf den zweiten Feiertag verschieben könnten.
Aber Audray.
Ich muss Schluss machen.
Ich lege auf.
Ich lese noch einmal, was auf dem Armband steht. Was ist Heparin. Hier steht, wir hätten meinem Dad eine Heparinspritze geben sollen.
Ich setze mich an den Tisch. Mir tun die Beine weh. Das kommt vom Warten. Und davon, dass ich am liebsten weglaufen würde.
Wieder klingelt das Telefon, und da es vermutlich Verlaine ist, gehe ich nicht dran. Aber es nicht Verlaine. Es ist Patience. Sie hinterlässt eine Nachricht. Es würde mich nicht wundern, wenn sie sagen würde: Ich habe deine Maus. Wie viel ist sie dir wert. Aber nein. Sie sagt: Hat dir die Trauerseife geholfen.
Ach. Die Trauerseife hatte ich ganz vergessen. Ich gehe nach oben. Und lege sie zu den anderen Sachen, die ich mit ins Civil Manor nehme. Wo ich Weihnachten verbringen werde.
Ich bin der einzige Gast. Quelle surprise . Doreen sitzt noch immer vor dem Fernseher, demselben alten Fernseher wie damals, so tief wie breit. Als ich einchecke, läuft Eine Weihnachtsgeschichte . Das Original. Mit Alastair Sim und Byrne Doyle. Als ich Doreen auf die Ähnlichkeit zwischen Jacob Marley und unserem konservativen Kandidaten hinweise, wendet sie den Kopf und sagt: Gütiger Jesus, du hast recht.
Wir befinden uns am Anfang des Films, in der vergangenen Weihnacht, wo Scrooge und Marley über die Hälfte der Anteile von Fezziwigs Firma erwerben, und Marley sagt: Stets zu Diensten, Mr. Scrooge, und deutet eine Verbeugung an.
Er ist Byrne Doyle wie aus dem Gesicht geschnitten.
Welches Zimmer hättest du denn gern.
Kann ich 205 haben.
Aber ja, Schätzchen.
Nr. 203.
Ihre Hand wandert nach links.
Wie hat Doreen nur all die Jahre durchgehalten. Es ist alles noch genau wie früher. Der orangene Teppich mit dem Mittelscheitel. Ich schleife meine Reisetasche den Gang entlang.
Ich habe versucht, Toff auf seinem Handy zu erreichen, ohne Erfolg. Nichts. Nicht einmal eine Bandansage. Nichts als Rauschen und ein leiser Sirenenton. Jetzt probiere ich es noch einmal. Und noch einmal. Ich lasse mich aufs Bett fallen. Die Decke erinnert mich noch immer an Toffs Bart.
Ich stelle mir vor, wie Toff und Onkel Thoby sich einen endlosen Faustkampf liefern. Der am Flughafen Montreal begonnen hat und nun in London fortgesetzt wird. Ein Faustkampf wie im Zeichentrickfilm: ein wild wirbelnder Zyklon, aus dem hier und da eine Faust oder ein Bein hervorschnellt. Darum geht Toff nicht ans Telefon. Er hat sein Handy im Zyklon verloren.
Derweil Großmutter gesund und munter in ihrem Krankenzimmer sitzt und sich Patiencen legt.
Ich schlafe ein und habe eine kurze Montage von Onkel Thoby, über dessen Schulter eine Drosophila melanogaster schwebt. Er wendet den Kopf und betrachtet sie mit liebevoller Resignation. Du schon wieder.
Das Schrillen des Telefons reißt mich aus dem Schlaf. Es ist Doreen. Hier ist ein junger Mann für dich.
Hat er rote Haare.
Und wie.
Knutschen auf dem Bett und so.
Pullover aus.
Judds weißes T-Shirt leuchtet im Schein des PIETY-Schriftzugs und der Lichterketten (Modell D-634), die sich auf dem Tisch türmen und aussehen wie Zürich aus der Ferne.
Seine Hand an meinem Pferdeschwanz. Seine Lippen an meiner Wange. Sein Weihnachtsgeschenk, der rote Fallschirm.
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