Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
man wusste, wann es grün wird. Und ein Grün, das über blasses Gelb und tiefes Orange langsam in ein sattes Rot überging.
Von da an sagte er an jeder roten Ampel: Die Ampel ist blau. Gleich wird es grün.
Er sagt, Vögel und manche Reptilienarten haben vier verschiedene Zapfen zur Farbwahrnehmung in den Augen. Wir hingegen haben nur drei. Das heißt, sie können Farben sehen, die wir nicht sehen können.
Kannst du dir vorstellen, wie ein Pfau für einen Pfau aussieht.
Wenn er ein Superheld wäre und sich eine Superkraft aussuchen könnte, dann die. Den zusätzlichen Zapfen.
Selbst seine Warnblinkanlage macht ihn glücklich.
Oder Verkehrsstaus bei Sonnenuntergang.
Und natürlich Weihnachtslichterketten.
Oben in seinem Zimmer über dem Schauraum arbeitet er so lange wie möglich ohne Kunstlicht, bis das Blau der Dämmerung das Zimmer erfüllt. Nur so kann man Weihnachtslichterketten erfinden.
Gut, er hat eine Halogenschreibtischlampe. Aber die steht immer auf dem Boden.
Was er gegen Oberlicht habe. Ich weiß auch nicht. Aber es ist so seelenlos. Denk an die Innenraumbeleuchtung eines Autos. Denk an die Mittagssonne an einem Sommertag. Seelenlos.
Ich nicke. Das finde ich auch.
Obwohl es dunkel ist, scheint die GOLEM in weißes Licht getaucht. Gestrecktes Baseballstadionlicht. Das unsere Gesichter hell und unsere Augen dunkel werden lässt.
Der Van, der denkt, mein Dad sei noch am Leben, blinkt immer noch im Rhythmus seines Herzens.
Judd sagt, jetzt könne er sich an meinen Dad erinnern. Er, Judd, stand mit seinem Van vor Canadian Tire und hatte seine Lichterketten (Modell D-434) an den Zigarettenanzünder angeschlossen. Mein Dad kam mit einem tanzenden Schneemann, der die Hüften schwingt, wenn man ihn einschaltet, aus dem Laden. Der Schneemann tanzte in der Tüte.
Manche Leute scheint der Van geradezu magisch anzuziehen.
Mein Dad blieb stehen, stellte sich vor und bestaunte die Lichterketten. Er fragte, ob das LED-Leuchten seien, und Judd sagte: Licht emittierende Dioden sind das Ding vom letzten Jahr.
Was meinem Dad ein Lächeln entlockte. Christmatech, las er den Schriftzug auf Judds Van. Er kaufte drei Stück.
Ist dir kalt, fragt Judd. Viens ici .
Ich lasse meine Hände seitwärts den Zaun hochklettern (Cliff nannte das eine Traverse), bis Judds rechter Arm mich von hinten umschließt wie eine Mauer. Der Wind lässt nach.
Warum wir hier sind. Weil es die Schule bald nicht mehr geben wird. Und wir unsere Erinnerungen auffrischen müssen.
Als ich den Kopf in den Nacken lege, landet mein Pferdeschwanz auf seiner Schulter, und seine Wange berührt meine Wange. Unsere Wangen sind eiskalt. Er flüstert mir ins Ohr, will wissen, wie es meinem Kinn, meiner Stirn, meinen Zähnen, meinem Auge geht. Es tue ihm ja so leid, dass ich die Treppe hinuntergefallen bin.
Mein Zahnarzt hat mir ein Antibiotikum verschrieben.
Ich brauche mich nur umzudrehen, und schon beginnt ein neues Kapitel. Kennen Sie dieses Gefühl. Wenn man nur loszulassen und sich umzudrehen braucht.
Meine Schildkröte ist noch in Oregon, sage ich.
Das lässt sich ändern, oder.
H eiligabend, und Onkel Thoby hat noch immer nicht angerufen. Dafür rufen andere Leute an und imitieren ihn. Wenn auch unfreiwillig. Aber der Hear Ye 3000 klingelt nun einmal mit seiner Stimme: Bist du da. Ja! Willst du nicht drangehen. Doch! Und ob ich drangehen will!
Im Laufschritt zum Telefon. Und dann der Stich ins Herz, als er es doch nicht ist. Es ist Murph, der wissen will, wie mir mein neues Schloss gefällt. Also wirklich, man kann es mit dem Dienst am Kunden auch übertreiben.
Immer wenn ich es anfasse, bekomme ich einen Schlag, sage ich.
Dann ist ja alles in bester Ordnung.
Soso. Danke der Nachfrage.
Man muss diesen Klingelton doch irgendwie abschalten können.
Verlaine ruft an, um sich zu entschuldigen – oder was sie dafür hält. Sie sagt, da Onkel Thoby es vorgezogen habe, de foutre le camp, sei ich ja nun allein, und bei diesem Gedanken sei ihr gar nicht wohl.
Foutre le camp . Das verwechsele ich immer mit coup de foudre . Foutre le camp ist das, was Cliff getan hat. Einen c oup de foudre hingegen verspüre ich, wenn ich Judds rote Haare sehe.
Onkel Thoby hat das Camp keineswegs Hals über Kopf verlassen, sage ich. Außerdem campe ich nicht allein.
Ich trage das CRYNOT-Armband von meinem Dad und klimpere damit, laut, während Verlaine mir klarzumachen versucht, dass sie mich mitnichten habe kränken wollen, als ich samt meinem
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