Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
ist reichlich nonchalant. Aber davon lasse ich mich nicht beirren. Gleichgültig gegenüber dem Rätselhaften und Geheimnisvollen ist so ziemlich das Letzte, was ich bin.
Noch am selben Nachmittag schicke ich sämtlichen Studenten auf der Liste eine E-Mail. Betreff: C’est-difficile-Epidemie
Hiermit möchte ich Euch darauf aufmerksam ma-
chen, dass das antibiotikaresistente Superbakte-
rium C’est difficile derzeit unter den Versuchsna-
getieren im Raum St. John’s zirkuliert. Falls Ihr in
den vergangenen sieben Tagen mit einem Versuchs-
tier (Haustiere inbegriffen) in Kontakt gekommen
seid, möchte ich Euch bitten, morgen früh um 10
zur ambulanten Behandlung beim Studentischen
Gesundheitsdienst vorstellig zu werden.
Schönen Gruß,
Denise Cavalier-Smith
Beauftragte für Studentengesundheit
Ich reibe mir die Hände. Was für eine clevere kleine Mausefalle. Mon Dieu, que c’est facile!
Bis die erste Antwort eintrudelt. Und dann noch eine. Und noch eine.
Es heißt C. difficile , du Schwachkopf.
So kann es kommen, wenn die Verdächtigen einen höheren IQ haben als man selbst.
Dessen ungeachtet warte ich am nächsten Morgen vor dem Studentischen Gesundheitsdienst, in der Hoffnung, dass vielleicht doch jemand aufkreuzt, der das Handtuch wirft und ein Geständnis ablegt: Ich war’s. Ich habe deinen Dad geliebt und wollte seine Maus haben. Ich kümmere mich liebevoll um sie.
Das glaube ich dir. Trotzdem kannst du sie nicht behalten.
Ich warte und warte, aber niemand kommt.
M on Dieu, que c’est facile , die Namen der Leute zu ermitteln, die meinen Dad auf dem Gewissen haben. Ich frage Jim Ryan, und er verrät sie mir. Er wusste von Anfang an Bescheid. Er hat diese Information seit der Kollision für sich behalten. Als er von der Sache mit meinem Dad erfuhr, rief er als Erstes einen seiner alten Kollegen von der Stab an.
Die Namen: Gill und Tina Tilley.
Ich brauche sie für das Victim Impact Statement, erkläre ich. Betonung auf Impact . Impakt. Aufprall. Kollision. Mit allen Konsequenzen.
Hältst du das für eine gute Idee.
Keine Sorge.
Und so finden Judd und ich uns bald darauf im Garten der Tilleys in Mount Paler wieder. Wir schaukeln auf ihrer Schaukel und warten darauf, dass sie nach Hause kommen.
Ich bin einfach davon ausgegangen, dass sie zu Hause sind.
Während wir warten, lese ich Judd mein Victim Impact Statement vor. Er weint.
Ich springe auf und halte seine Schaukel an. O nein. Das wollte ich nicht.
Das wird sie umbringen, sagt Judd, und wischt sich mit seinem blauen Fäustling die Tränen aus den Augen.
Genau das soll es auch. Nur zum Weinen bringen sollte es dich nicht. Ich schlinge die Arme um seinen Kopf. Er wehrt sich nicht.
In meinem VIS steht, dass mein Dad Weihnachten und Wahlen liebte. Und dass die Tilleys nicht nur meinem Dad das Leben und sein demokratisch verbrieftes Wahlrecht genommen, sondern die gesamte Menschheit ihrer potenziellen Unsterblichkeit beraubt haben, weil Walter Flowers ein bahnbrechender Wissenschaftler war, der so kurz (was ich an dieser Stelle mit Daumen und Zeigefinger zu veranschaulichen gedenke) davorstand, uns allen ewiges Leben zu schenken, abgesehen von Unfällen und Mord (anklagender Blick zu Gill Tilley, der am Steuer saß).
Das mit der Unsterblichkeit ist vielleicht ein bisschen übertrieben, sage ich zu Judd und falte das Statement zusammen.
Es wird langsam dunkel. Wir stapfen durch den Schnee zu einem Hinterfenster ohne Gardinen. Judd hebt mich hoch. Durch eine offene Tür kann ich den Baum sehen.
Hat er eine Delle.
Das ganze Lametta an seiner Mordwaffe würde meinem Dad bestimmt nicht gefallen. Heiliger Strohsack. Ich muss lachen.
Judd lässt mich herunter.
Ich drehe mich um und lehne mich gegen die Hauswand. Ich lache mich fast kaputt. Judd hält mir mit einem Fäustling den Mund zu. In der Einfahrt hält ein Auto.
Eine Frau ruft: Reenie, bring deine Dora rein.
Ein kleines Mädchen mit baumelnden Fäustlingen und Korkenzieherlocken kommt um die Ecke. Zuerst sieht sie die Fußspuren im Schnee. Die schnurstracks zu ihrer Schaukel führen. Eigentlich hatte sie vor dem Abendessen noch rasch ein wenig schaukeln wollen. Jetzt wendet sie den Kopf. Langsam. Judd winkt ihr mit der Hand, die nicht auf meinem Mund liegt. Reenie (kurz für was, Sabrina, Marina, Irena) Tilleys Augen werden immer größer, und ich weiß, dass ich ein VIS, das aus ihrem lamettageschmückten Weihnachtsbaum einen Totschläger macht, an dem Haare, Hirn und
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