Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
finden. Ich nehme ihn aus dem Regal.
Nicht, Audray. Das ist giftig.
Ich würde es gern mitnehmen.
Sie setzt sich auf den Stuhl von meinem Dad. Also darum das ganze Theater.
Welches Theater.
Warum hast du nicht gleich gesagt, dass du dir das Labor deines Vaters ansehen willst.
Weil ich gar nicht wusste, dass ich es mir ansehen will.
Du kannst das Gehirn nicht mitnehmen. Geschweige denn behalten. Aber du kannst es besuchen.
Die Vorstellung, ein Gehirn zu besuchen, bringt mich zum Lachen.
Sie mustert mich.
Was ist.
Wie sagt ihr noch gleich für œillères , sagt sie. Wenn man … Sie wölbt die Hände um die Augen.
Scheuklappen.
Ja. Scheuklappen.
Ich wende mich von ihr ab.
Ich habe mit meiner Tante gesprochen, sagt sie. Sie hat mir Vorwürfe gemacht, weil ich dich über Weihnachten alleingelassen habe.
Ich war nicht allein.
Non .
Non . Erinnerst du dich an den Weihnachtslichterkettenerfinder.
Der junge Mann, der deinen Vater sprechen wollte. Bitte stell das Gehirn zurück, Audray.
Gleich.
Du hast Weihnachten mit einem Weihnachtslichterkettenerfinder verbracht.
Mit wem könnte man Weihnachten besser verbringen.
In der Tat.
Ich betrachte das Gehirn von allen Seiten. Wo ist die Medulla oblongata. Wo.
Verlaine klopft sich auf die Schenkel. Na schön, sagt sie. Allons-y .
Ich hätte da noch eine Frage.
Sie steht in der Tür und hat die Hand schon am Lichtschalter.
Onkel Thoby hat gesagt, du warst im Krankenhaus.
Sie lässt die Hand sinken. Am besten gar nicht hinsehen.
Meine Frage lautet: Hast du eine bewegende Rede gehalten. Am Bett von meinem Dad.
Eine bewegende Rede.
Hast du mit ihm gesprochen.
Schon möglich.
Über mich.
Non .
Hast du insgeheim über mich gesprochen.
Wie soll ich das verstehen.
Hast du insgeheim über mich gesprochen und nur so getan, als ob nicht.
Non.
Insgeheim. Ich werfe ihr einen verstohlenen Blick zu.
Keine Antwort.
Ich meine ja nur. Vielleicht hätte er die Augen geöffnet, wenn du über mich gesprochen hättest.
Er hat sie aber nicht geöffnet.
Aber du hast es versucht.
Ich habe es versucht.
Ich nicke. Ich stelle das Gehirn ins Regal zurück. Auf dem Weg nach draußen sehe ich, dass die Stoppuhr von meinem Dad am Kleiderständer hängt. Sie ist bei 10:02:48 stehengeblieben. Mein Dad hat bei 10:02:48 die Stopptaste gedrückt. Kann ich die mitnehmen. Und behalten, frage ich.
Die kannst du behalten, ja.
Im Civil Manor liegt Judd mit den Armen über der Decke im Bett und schläft. Ich lege mich auf ihn. Seine Arme umschließen mich wie eine Mauer. Draußen lässt der Wind nach.
Hast du ihn gefunden.
Nein.
Das lässt doch hoffen.
Ich nicke an seinem Hals.
Die Stoppuhr piekst. Was ist denn das, fragt er.
Ich ziehe sie heraus. Die Uhr läuft wieder. Ein Verdächtiger weniger, sage ich.
Ich treffe mich im Snark, der Cafeteria des Fachbereichs, mit Patience zum Mittagessen und frage sie nach dem Humouse House und Leonel de Tigrel. Ob sie je davon gehört habe.
Sie verdreht die Augen. Hör mir bloß auf.
Also ja.
Nein. Aber die Namen sind schon schlimm genug.
Ich teile ihr mit, dass Wedge, die kostbare Hausmaus meiner Kindheit, verschwunden ist. Und wenn ich kostbar sage, meine ich kostbar . Zwei Millionen Dollar, wenn nicht mehr. Ich hebe die Augenbraue, als ob ich sagen wollte: Bist du sicher, dass du mir nichts zu beichten hast.
Sie sitzt mir im Schneidersitz gegenüber und hört mich an. Die Sessel sind riesig und aus Leder. Sie will wissen, ob ich schon einmal vom Victim Impact Statement gehört hätte.
Nein. Was ist das.
Eine Stellungnahme vor Gericht, bei der das Opfer einer Straftat Gelegenheit erhält, die Konsequenzen sozusagen aus erster Hand zu schildern.
Ich bin noch immer so sehr auf Wedge fixiert, dass ich denke, es gehe um ihn.
Es kann vielleicht nicht schaden, wenn du ein solches Statement aufsetzt.
Da wird mir klar, dass sie von meinem Dad spricht. Und den Leuten, die ihn niedergemäht haben. Und von mir.
Letzten Endes musst du irgendwie damit fertigwerden.
Ich nicke. Ich überfliege meine Liste von Verdächtigen. Letzten Endes, sage ich, brauche ich die E-Mail-Adressen der Studenten von meinem Dad.
Mein Dad sagte immer, ich sei chalant. Ein verlorengegangener Positiv. Nonchalance, sagte er, sei die Gleichgültigkeit gegenüber dem Rätselhaften und Geheimnisvollen. Und damit eine der schlimmsten Eigenschaften, die ein Mensch überhaupt haben könne. Also lass dir deine Chalance nicht nehmen.
Je nun. Patience
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