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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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Anspringen der Heizung, weshalb ich es zunächst überhört habe. Ein Quieken und Surren aus dem Wohnzimmer.
    Wedge!
    Ich überlasse meinen Pferdeschwanz wieder der Schwerkraft.
    Ich wusste natürlich, dass er da ist. Ich hatte ihn lediglich vergessen. Ich schlittere über den Küchenboden. Bleibe im Türbogen stehen. Im trüben Licht der hereinbrechenden Dämmerung sehe ich Wedge weiß schimmernd auf dem Kaminsims stehen. Sein Laufrad blitzt.
    Mr. Sam, flüstere ich. Mr. Wedge Man.
    Er hält inne.
    Ich nähere mich dem Käfig, pardon, Terrarium.
    He, du.
    Er sträubt das Fell auf seiner Stirn. Wie sehe ich aus.
    Gut.
    Vorsichtig steigt er aus seinem Laufrad. In seinem Napf, zwischen dem Trockenfutter, liegt ein angefressenes Lakritz.
    Und vor wem läufst du heute davon, frage ich. Oder verfolgst du jemanden.
    Wedge hat eine blühende Fantasie, also ist es wahrscheinlich entweder ein Berglöwe oder die Russenmafia.
    Ich öffne das Gitterdach und hole ihn heraus.
    Er ist ganz warm und zittert. Sein kleines Herz pumpert so wild, dass ich die Luft anhalten muss. Ich bin keine Säugetiere mehr gewohnt.
    Er reibt seine Nase an meiner. Mein Laufrad könnte ein Tröpfchen WD-40 vertragen.
    Gut.
    Ich nehme ihn mit in die Küche. Er erkundet den Tisch. Wenn er der Kante zu nahe kommt, halte ich seinen Schwanz mit der Fingerspitze fest. Er dreht sich um. Jemand tritt mir auf den Schwanz. Ich lasse los. Er flitzt in eine andere Richtung davon. Dieses Spielchen spielen wir eine Weile. Schließlich, als der Himmel langsam heller wird, beruhigt er sich. Wie nachtaktive Tiere es so an sich haben. Er sitzt im Gehege meiner Arme und putzt sich. Ich senke den Kopf und beobachte, wie zwischen seinen Ohren die Sonne aufgeht. Wenn das Licht von hinten durch sein Ohr scheint, kann man seine Tätowierung sehen. 81.
     
    A ngenommen, sagt mein Dad, das Leben würde ewig währen.
    Wir sind in seinem Labor und schauen den Mäusen beim Schwimmen zu. Ich bin noch klein. Mein Laborkittel schleift über den Boden. Er legt mir die Hand auf den Kopf. Von Unfällen einmal abgesehen, sagt er.
    Aha.
    Ewig heißt für immer.
    Ich weiß.
    Er trägt die Stoppuhr wie eine Kette um den Hals.
    Die Mäuse machen Ferien. Jede hat ihren eigenen Pool. Es sind fünf Pools. Zwanzig Mäuse. An der Wand sind Käfige wie Hotelzimmer übereinandergestapelt. Jedes Hotelzimmer hat eine Zimmernummer. Jede Maus hat ihre Zimmernummer auf das linke Ohr tätowiert.
    Auf das linke Ohr kommt es an.
    Fünf Mäuse gehen zehn Minuten schwimmen. Dann die nächsten fünf. Und die übernächsten.
    Im Wasser sträubt sich ihr Fell vor lauter Angst. Schwimmen sie, oder wollen sie nur herausklettern. Sie wollen herausklettern. Weit und breit keine Maus, die kraulen oder gemütlich auf dem Rücken treiben würde. Sie schwimmen im Kreis und scharren an den Wänden des Pools.
    Die Mäuse machen gar keine Ferien. Das ist so eine Art unfreiwillige Freischwimmerprüfung. Die Pools sind Mülltonnen von Canadian Tire. Aber wehe, Sie verraten das den Mäusen.
     
    Mein Dad sagt, wir bestehen aus kleinen Kreisen, die man Zellen nennt. Mit der Zeit werden diese Zellen schmutzig und geraten aus der Form. Dann sterben wir. Aber selbst die ältesten und runzligsten Zellen wissen noch, wie es war, als sie jung waren. Sie tragen die Erinnerung an ihre Jugend in sich. Also braucht man ihr Gedächtnis bloß ein wenig auf Trab zu bringen. Trab, trab. Weißt du noch, wie es war, als du jung warst. Na los, erinnere dich. Es hört sich einfach an, aber bisher ist noch niemand darauf gekommen, wie man das Gedächtnis einer Zelle ordentlich auf Trab bringt.
    Obwohl, das stimmt nicht ganz. Ein Mann an der Universität von Cambridge hat einen Frosch dazu gebracht, sich an sein Leben als Kaulquappe zu erinnern.
    Auch Licht, das aus kleinen Kreisen besteht, die man Photonen nennt, hat ein Gedächtnis. Niemand weiß genau, wie dieses Gedächtnis funktioniert, aber manchmal trifft das Licht eine Entscheidung, die auf Erfahrung beruht. Das gilt übrigens auch für Wasser. Wenn man Wasser kocht, erinnert sich das Wasser, dass es schon einmal gekocht hat, und kocht beim zweiten Mal ein wenig schneller. Ich meine, nachdem es sich auf Zimmertemperatur abgekühlt hat. He, ich weiß, wie man kocht. Während es beim ersten Mal noch fragen musste: Was, bitte schön, ist Kochen?
    Und wie bringt die unfreiwillige Freischwimmerprüfung das Mäusegedächtnis nun auf Trab. Gar nicht. Das gehört eigentlich auch gar nicht

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