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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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zufällig einen Pferdeschwanz zur Hand haben, empfiehlt sich Folgendes: Klemmen Sie sich den Pferdeschwanz unter die Nase wie einen Schnurrbart. Das beruhigt und macht müde. Außerdem zwingt es einen, den Tisch loszulassen. An dem ich sitze, seit Onkel Thoby nach unten und ins Bett gegangen ist.
    Servus, sagte er.
    Servus . Das Wort hatte ich ganz vergessen.
    Und wenn das SEK doch noch kommt, sagte ich.
    Er schlich die knarrende Kellertreppe hinunter. Geh zu Bett, Liebes.
    Ich nickte. Und setzte mich stattdessen an den Tisch. Trommelte mit den Fingern. Hörte nach einer Weile auf zu trommeln und fing an, mich festzuhalten. Zwang mich, wieder loszulassen.
    He. Mein Pferdeschwanz riecht nach Air Canada.
    Wobei mir einfällt. In den Nachrichten im Flugzeug wurde das Wort verschwunden auf eine Art und Weise gebraucht, die mir neu war. Wie ging das noch gleich. Mehrere Personen seien verschwunden worden, sagte ein Reporter. Nicht verschwunden. Verschwunden worden .
    Und urplötzlich ist dieses Wort, das seit grauer Vorzeit wie ein Möbelstück in einer dunklen Ecke stand, zum Leben erwacht und aufgesprungen.
    Ich greife zum Telefon. Wähle Lindas Nummer. Chuck nimmt ab. Ich habe sie geweckt. Tut mir leid. Ich wollte mich nur rasch erkundigen, wie es Winnifred geht …
    Wem.
    Kann ich mal Linda sprechen.
    Ach, der Schildkröte. Der geht’s prima. Nur wir kommen bei der Bullenhitze fast um. Hier drin sind achtunddreißig Grad.
    Kann ich mal Linda sprechen.
    Bettzeug raschelt.
    Hallo Audrey. Es geht ihr bestens.
    Könntest du vielleicht kurz nach ihr sehen.
    Morgens um halb drei.
    Bitte.
    Seufz. Warte.
    Und ich höre Chuck sagen: Was. Als ob das mit der Achselhöhle noch nicht gereicht hätte. Jetzt sollen wir das Mistvieh wohl auch noch mit ins Bett nehmen.
    Linda, im Hintergrund: Halt die Klappe.
    Eine Minute vergeht. Noch eine. Schließlich kommt sie wieder. Schildkröte gesund und munter. Sie ist aufgewacht, als ich das Licht angemacht und auf ihren Panzer geklopft habe.
    Dann ist sie also wohlauf.
    Sie ist vor allem stocksauer.
    Oh. Gut. Okay.
    Ich trommle mit den Fingern.
    Audrey.
    Ja.
    Ah. Ich dachte schon, du hättest aufgelegt.
    Nein.
    Wie geht’s, fragt sie. Wie ist es bei dir.
    Ähm. Kleiner. Alles ist kleiner. Besonders die Bäume.
    Aber sonst …
    Alles bestens. Entschuldige, dass ich euch geweckt habe.
    Kein Problem. Mich bringt so leicht nichts ins Schwitzen.
    Du hast gut reden, höre ich Chuck sagen. Mir quillt die Suppe aus allen …
    Tschüs.
    Tschüs.
     
    Ich bleibe noch ein wenig sitzen und denke darüber nach, dass es Winnifred prima, einfach prima geht. Und wie heiß, wie unglaublich heiß es in dieser Wohnung ist. Dann greife ich zum Telefon. Chuck nimmt ab. Entschuldige, dass ich noch mal störe, sage ich.
    Herrgott, das hält ja kein Mensch aus.
    Ich habe nur gerade überlegt, ob ihr einen Feuermelder habt. Und womit ihr heizt. Und ob Winnifreds Schloss vielleicht in der Nähe eines Heizkörpers steht.
    Klick. Aufgelegt.
    Je nun.
     
    Ich lese das CRYNOT-Armband, das ich mir ums Handgelenk gebunden habe. Warum man das Unfallopfer kühlen soll, ist mir ein Rätsel. Sollte man es nicht eher wärmen.
    Der Teich ist wie aus Silber. Bald wird es hell. Die Ganzjahresschwäne schaukeln vorbei. Die Bäume am anderen Ufer sehen klein und freundlich aus. Oder vielmehr klein und grimmig. Wo führt der Teich eigentlich hin. Wo. Immer wenn ich in Portland den Rasen rings um den Stausee mähte, musste ich an den Wednesday Pond denken. Rings um den Stausee stand ein hoher, spitzer Zaun, damit den Wasservorrat der Stadt niemand vergiften konnte. Nehme ich jedenfalls an. Ich mähte den Rasen, sah durch die Gitterstäbe und dachte darüber nach, dass ein Stausee eigentlich keinen richtigen Grund hat. Und dass man, wenn man ganz tief, bis ins Rohrsystem hinabtaucht und nicht aus Versehen falsch abbiegt, an einem völlig unerwarteten Ort wieder auftaucht, zum Beispiel im Wednesday Pond.
    Ich fragte mich, ob es zwischen den beiden Gewässern vielleicht eine Verbindung gab.
    Es tut mir leid, dass ich nicht über den Zaun geklettert und durch das Labyrinth von Rohren nach Hause geschwommen bin, Dad. Es tut mir leid, dass mein großes, wohlbehaltenes Abenteuer kein Ende nehmen wollte. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ich hatte Angst. Ich weiß auch nicht, warum ich den Sprung über den Kontinent nicht schon viel früher gewagt habe.
     
    Hinter mir ertönt ein Geräusch, das mir in etwa so vertraut ist wie das

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