Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
auch.
Dann komm zurück oder es hat sich ausgespielt.
Ich trampelte zum Tisch zurück. Ich war erst nach viermal Würfeln wieder dran. Also drehte ich ein paar Runden um den Tisch.
Sie schaut mir in die Karten, sagte Baronin von Porz.
Ich tippte mir mit dem Finger auf die Brust. Moi.
Dann stellte ich mich hinter Toff und setzte ihm den Revolver an die Schläfe, ohne dass er etwas davon merkte.
Onkel Thoby zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. Setz dich, sagte er. Sofort.
Ich setzte mich. Erst mal.
Toff sagte: Warum gibt es eigentlich kein zweistöckiges Cluedo-Brett. Mit Schlafzimmern. Und einem Bad mit Whirlpool.
Eine Erwachsenenausgabe, sagte mein Dad. Mit scharfen Waffen.
Langes Schweigen.
Also wirklich, Walter, sagte Onkel Thoby.
Was meinen Vater auf die Palme brachte: dass ich nie richtig würfelte. Dabei war das gar nicht nötig. Wenn man in ein Eckzimmer kam, konnte man einfach quer über das Brett in die gegenüberliegende Ecke hüpfen, ohne zu würfeln. Deshalb beschränkte sich meine Strategie darauf, ständig hin und her zu springen.
Warst du eigentlich schon mal im Billardzimmer, fragte Toff.
Nö.
Du hüpfst also ständig zwischen Salon und Wintergarten hin und her.
Ja.
Und wie willst du dann den Tatort ermitteln.
Ich habe da so meine Methoden.
Und sind die auch koscher.
Bien sûr .
Großmutter verdächtigte jetzt Direktor Grün mit dem Kerzenleuchter in der Küche.
Du meinst Korkenzieher!
Pardon, Korkenzieher.
Der Korkenzieher war zu groß. Er passte in kein einziges Zimmer.
Du bist einfach zu faul, zu würfeln und die ganzen Zimmer abzuklappern, sagte mein Vater und schaute andächtig in seine Karten. Ich kann dir nicht helfen, sagte er zu Großmutter.
Also, dann, sagte sie. Dann klage ich jetzt an.
Halt halt halt, sagte ich. Willst du wirklich anklagen. Oder nur verdächtigen.
Anklagen, sagte sie. Und zwar Direktor Grün mit dem Korkenzieher in der Küche.
Ich richtete den Revolver auf sie. Falsch, sagte ich.
Großmutter griff nach dem Umschlag mit der Lösung.
Halt! Erst musst du eine Runde aussetzen.
Da benimmt sich aber jemand nicht seinem Alter entsprechend, sagte Großmutter.
Wer, fragte ich und blickte in die Runde.
Mum, sagte mein Dad.
Walter, ich finde …
Ich bin doch erst ein Jahr alt, sagte ich.
Unsinn, sagte sie.
Ich habe aber erst einmal Geburtstag gehabt, sagte ich und hielt einen Finger hoch. Schreib dir das hinter die Ohren.
Also, sagte Onkel Thoby und stand auf. Ich glaube, es ist höchste Zeit für die Liege.
Sie meint Schaltgeburtstag, sagte mein Dad.
Ich weiß, was sie meint, sagte Großmutter. Du bist sieben , Audrey.
Wie sie das Wort sieben betonte, gefiel mir gar nicht.
Onkel Thoby nahm mir den Revolver aus der Hand. Und jetzt nach oben mit dir, sagte er. Nacht.
A ls ich am nächsten Morgen nach unten kam, war der Kaffee noch nicht fertig. Es roch jedenfalls nicht nach Kaffee. Mein Dad holte den neuen Fliegenteller aus dem Geschirrspüler. Der gehört nicht in den Geschirrspüler, sagte er. Und seine Augenbrauen sahen aus wie die von Bert.
Ich zeigte auf die Kaffeemaschine. Wo ist Ernie.
Audrey. Komm mal einen Augenblick hierher.
Ich war schon auf der Kellertreppe. Ich sah nach oben. Da unten ist er nicht, sagte mein Dad.
Warum.
Komm her.
Ich stieg die Treppe langsam wieder hoch. Normalerweise machte Onkel Thoby morgens Kaffee. Er war immer als Erster auf.
Mein Dad erklärte mir, dass Onkel Thoby in ein Hotel gezogen sei. Vorübergehend. Wegen der beengten Wohnverhältnisse. Ich könne mein Zimmer zurückhaben. Toff werde nach unten in Onkel Thobys Zimmer ziehen. Dabei versuchte er, einen Kaffeefilter aus der Packung zu fummeln. Ohne Erfolg. Scheiße, sagte er, warf die Packung auf die Anrichte und zeigte mit dem Finger darauf. Kannst du mal, sagte er.
War das vielleicht meine Schuld. Weil ich einen Revolver auf Toff und Großmutter gerichtet hatte. Weil ich mich nicht meinem Alter entsprechend verhielt, was auch immer das heißen mochte.
Das war meine größte Angst. Dass ich eines Morgens aufwachen würde, und Onkel Thoby wäre nicht mehr da, und wir würden die Kaffeefilter nicht aus der Packung kriegen. Plötzlich wäre alles anders. Stellen Sie sich vor, in Dickens’ Weihnachtsgeschichte wacht Scrooge morgens auf und ist nicht etwa glücklich und zufrieden, sondern todtraurig, weil er sich in einen der Geister verliebt hat. Und jetzt kann er die echten Menschen noch weniger leiden, weil sie alle Schweine sind. Alle
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