Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
der immer schon ein Kind hatte haben wollen (und das hoffentlich auch noch wollte, obwohl ich ins Civil Manor abgehauen war und er Todesängste um mich ausgestanden hatte), oder wie Onkel Thoby, dann sollte man es ihm auch erlauben. Ob ich damit einverstanden sei.
Und wie ich damit einverstanden war.
Durch den Lysol-Tränenschleier erkannte ich, dass damit längst nicht alle einverstanden waren. Unsere englischen Gäste beispielsweise waren damit ganz und gar nicht einverstanden. Sie behandelten uns wie ein Kartenspiel. Sie mischten uns auseinander. Entzweiten uns. Umso dringender musste ich uns beschützen.
England hatte Buben, pardon, Bauern, Damen und Könige. Dafür hatten wir die Joker. Nein, wir waren die Joker. Die jenseits des Atlantiks wider alle Regeln ihr kleines Freudentänzchen aufführten.
V erlaine legt mir die Hand auf die Schulter. Vor der Tür steht ein junger Mann. Er möchte zu deinem Vater.
Was.
Ich habe ihm gesagt, er soll warten.
Das ist so ähnlich wie mit Onkel Thobys Stimme auf dem Hear Ye 3000. Man gibt sich der Illusion hin, dass tatsächlich er es ist, der anruft. Und geht voller Hoffnung an den Apparat. Ebenso rede ich mir ein, dass der Mann auf der Veranda, der denkt, dass mein Dad noch lebt, vielleicht wirklich eine Fahrkarte in eine andere Welt in Händen hält, eine Welt, in der mein Dad nicht tot ist. Womöglich weiß er etwas, das ich nicht weiß.
Und so gehe ich über den Flur, ganz langsam, um den entscheidenden Moment hinauszuzögern. Meine Fingerspitzen gleiten an der Wand entlang. Immer schön senkrecht halten. Er steht an der Treppe, mit dem Rücken zum Haus. Ich öffne die Fliegentür. Er dreht sich um. Knallrote Haare. Wollpullover. Stiefel wie Kanonenrohre. Auf der Straße steht ein roter Van mit eingeschalteter Warnblinkanlage.
Ich gehe auf Socken auf die Veranda hinaus.
Ich möchte zu Walter Flowers, sagt er.
Er ist dick. Ein fünfstrangiges Zopfmuster ziert seinen Pullover. Darunter wölbt sich sein mächtiger Bauch.
Ich bin seine Tochter.
Er streckt die Hand aus. Judge Julian Brown.
Judge. Sie sind Richter . Dafür ist er eigentlich viel zu jung. Nun ja, vielleicht ist er Punktrichter bei einem Skateboardwettbewerb.
Judd, verbessert er.
Ah. Judd. Ohne Dsch.
Ja.
Julian Brown.
Mit Bindestrich.
Von der Möbel-Dynastie Julian-Brown!
Dynastie würde ich das nicht unbedingt nennen, aber na ja.
Okay. Verstanden. Was kann ich für Sie tun.
Ihr Vater hat Lichterketten gekauft. Die wir nun zurückrufen. Wir würden sie gern abholen.
Auf dem blinkenden Van hinter ihm steht Christmatech. Ach, Sie sind das.
Sie haben mehrere Rückrufschreiben von uns erhalten.
Ja, das ist uns nicht entgangen. Aber ich finde, das geht über bloßen Kundenservice hinaus. Sie sind aufdringlich.
Wir nennen es lieber gewissenhaft.
Wir.
Wir würden das Modell D-434 Ihres Vaters gern gegen das Modell D-534 umtauschen.
Offensichtlich.
Die Lichterketten sind doch nicht in Gebrauch, oder, sagt er und späht über meine Schulter hinweg ins Haus.
Nein. Was ist eigentlich in diesen Lichterketten, Judd. Plutonium.
Wir einigen uns darauf, dass Judd mir das neue Modell sofort aushändigt und ich meinem Dad ausrichte, dass es wenig ratsam sei, das alte zu benutzen. Ich erkläre mich bereit, meinen Dad zu bitten, das alte Modell in Judds Filiale vorbeizubringen. Morgen. Aber jetzt passe es gerade nicht, da wir eine Party feiern, wie Judd an den vielen Autos unschwer erkennen könne, und da wolle ich meinen Dad ungern mit dieser leidigen, wenn auch dringenden Rückrufaktion behelligen. Die Gefahr halte sich allerdings in Grenzen, weil wir die Lichterketten derzeit nicht benutzten. Und die Lichterketten seien doch sicher nicht gefährlich, solange man sie nicht in die Steckdose steckt, oder.
Sie sind auch in unbenutztem Zustand nicht ganz ungefährlich.
Wir sehen uns an. Er zwinkert.
Ich lache.
Woher kennt mein Dad den Burschen bloß. Okay. Gut. Lassen wir’s erst mal draufankommen.
Judd sagt, er habe das neue Modell im Wagen.
Okay. Dann mal los.
Er marschiert die Einfahrt hinunter, und ich rufe ihm nach: Wer ist eigentlich wir.
Er dreht sich um, geht rückwärts. Tippt sich auf die Brust. Ich. Kracht gegen einen Seitenspiegel. Autsch.
Seine Haare heben sich leuchtend rot gegen den blau schimmernden Schnee ab. Der Van blinkt einen synkopierten Rhythmus.
Ich schlinge die Arme um mich. Und vollführe im Takt mit dem Van ein kleines Tänzchen. Kalt.
Schritte bringen die
Weitere Kostenlose Bücher