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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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Fragezeichen.
    Ich sehe ihn an. Was sagt man dazu.
    Nein, ein Hufkratzer.
    Ach.
    Ich lasse die Zungenspitze über meine Vorderzähne gleiten. Regel Nummer Eins des Hufkratzens. Beugen Sie sich nicht mit offenem Mund über den Huf. Singen Sie nicht O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter. Denn wenn das Pferd das Gewicht verlagert und den Huf dabei auch nur ein paar Zentimeter hebt: He, wo sind denn plötzlich meine Vorderzähne geblieben. Oha. Ich fürchte, die stecken mir im Hals.
    Es ist nämlich erstaunlich leicht, die Vorderzähne zu verlieren.
    Als Verlaine vor etlichen Jahren mein blutendes Zahnfleisch begutachtete, schüttelte sie den Kopf und sagte: Tja, besonders helle warst du ja noch nie.
    Ich wollte eben in Tränen ausbrechen, als sie mir zuzwinkerte. Denn wir wussten schließlich beide, dass ich aus dem Füllhorn der Weisheit getrunken hatte.
     
    Verlaine meint, der Lada ließe sich vielleicht starten, wenn er von ein paar stämmigen Männern, einer kräftigen jungen Frau und zwei Spitzenkandidaten angeschoben werde. Jim Ryan ist sofort einverstanden. Und wenn der Wagen partout nicht anspringen wolle, könne man ihn ja immer noch in Byrne Doyles Einfahrt schieben.
    Onkel Thoby hat unter der Motorhaube Gottweißwas mit Isolierband geflickt. Jou, sagt er und nickt, als ob er sagen wollte: Meine Arbeit ist getan, hoffentlich sieht sie sich niemand aus der Nähe an. Alles Klärchen. Er knallt die Motorhaube zu.
    Ich schiebe mir den Hufkratzer in die eine, die Schere in die andere Tasche. Ich bin ganz in meinem Element. Wir postieren uns wie folgt entlang der Heckstoßstange: erst Byrne Doyle, dann Clint, dann ich, dann Onkel Thoby, dann Jim Ryan. Wir wollen den Wagen in einem großen Bogen um Jims Hörnchen herum auf die Straße schieben, wobei er hoffentlich genügend Schwung kriegt. Dann schieben wir auf der Geraden weiter, und Verlaine lässt die Kupplung kommen.
    Alle drängeln wie wild. Clint sagt: Kannst du in dem Schlafsack, den du einen Mantel schimpfst, überhaupt laufen.
    Vielleicht ziehe ich ihn besser aus und lasse ihn hier liegen.
    Ja, gute Idee.
    Als wir den Wagen anschieben, sagt Jim: Gott, ist der leicht.
    Er ist ja auch ziemlich bodenlos.
    Kommt diese Verlaine eigentlich aus Russland, sagt Jim.
    »Diese Verlaine« kann dich hören. Ihr Fenster ist offen.
    Und. Kommt sie nun aus Russland oder nicht.
    Warum.
    Weil ich mich frage, weshalb sich jemand einen Wagen dieser Güteklasse anschafft.
    Was denn für eine Güteklasse.
    Na, osteuropäisch.
    Jetzt reicht’s aber, Jim, sagt Onkel Thoby.
    Langsam kommen wir in Fahrt. Was in der Einfahrt auch nicht allzu schwer ist. Auf der Straße ist es etwas mühsamer, auf der Straße liegt nämlich Schnee. Im Unterschied zu Jim Ryans blitzblankem Hörnchen. Wir geben alles. Wie schnell sind wir. Zehn, zwanzig, vierzig, sechzig Stundenkilometer! Nein, sechzig schafft nur ein Gepard. Höchstens zehn. Kurz hinter Byrne Doyles Haus springt der Wagen stotternd an. Wir spüren, wie er unseren Händen entgleitet. Ein fantastisches Gefühl. Verlaine steckt die Hand durchs Fenster und streckt den Daumen hoch. Am Ende der Straße biegt der Lada ab wie ein ganz normales Auto. Der Blinker blinkt. Als ob er sagen wollte: Dum-di-dum, Jim Ryans Verunglimpfungen meines Heimatlandes gehen mir an demselben Allerwertesten vorbei, den fünf Leute soeben eine stille Sackgasse entlangbugsiert haben. Und jetzt weiter im Text.
    Ich bin die Letzte, die noch läuft, die Letzte, die den Wagen loslässt. Mein Gewissen regt sich. Ich wünschte, die Party wäre vorbei, aber die Leute würden noch ein wenig bleiben. Ein paar jedenfalls. Ich drehe mich um. Die anderen stehen unter einer Straßenlaterne. In seinen schlotternden Hemdsärmeln sieht Byrne Doyle aus wie ein Gespenst. Jim Ryan stützt die Hände auf die Knie, weil man dann schneller wieder zu Atem kommt. Weiß doch jeder.
    Onkel Thoby strahlt. Zum ersten Mal, seit ich wieder da bin, sieht er aus wie er selbst. Seid umschlungen, Millionen, sagt er. Niemand rührt sich von der Stelle. Alle stehen da wie die Ölgötzen. Also laufe ich zu ihm und werfe mich in seine Arme.

 
    Teil zwei
     
    ODDLY, DIE BIOGRAFIN
     
     
    I ch heiße noch immer Winnifred. Chuck hat mir keinen neuen Namen gegeben. Der Willamette ist übrigens ein Fluss, wie ich inzwischen herausbekommen habe. Das hätte ich natürlich wissen müssen. Ich meine mich nämlich zu entsinnen, besagten Fluss bei mindestens einer Gelegenheit vom

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