Die Erste Liebe: Nach 19 Vergeblichen Versuchen Roman
fingen seine Eltern mit ihm zu lesen an – überall und jederzeit, vor allem englische, aber auch französische Bilderbücher.
Vier Monate später schickten sie ihn in einen Kindergarten für hochbegabte Kinder. Im Kindergarten hieß es, Colin sei schon zu weit für den Kindergarten, und außerdem nahmen sie keine Kinder, die noch nicht aufs Töpfchen gingen. Sie schickten ihn zu einer Psychologin an der University of Chicago.
Und so landete das nicht ganz stubenreine Wunderkind in einem kleinen fensterlosen Büro an der South Side bei einer Frau mit Hornbrille, die Colin fragte, ob er in langen Zahlen- und Buchstabenreihen Muster erkennen konnte. Dann bat sie ihn, geometrische Figuren zuzuordnen. Sie fragte ihn, welches Bild nicht zu den anderen passte. Sie fragte ihn eine schier endlose Reihe herrlicher Fragen, und Colin liebte sie deswegen, denn bis dahin hatten die meisten Fragen, die man ihm stellte, damit zu tun gehabt, ob er die Hosen voll hätte oder bitte noch einen Löffel von dem ekligen Matschebrei essen würde.
Nach einer Stunde Fragen sagte die Frau: »Colin, ich danke dir für deine große Geduld. Du bist ein ganz besonderer Junge.«
Du bist ein ganz besonderer Junge.
Diesen Satz würde Colin noch sehr oft in seinem Leben hören, aber aus irgendeinem Grund bekam er nie genug davon.
Die Frau mit der Hornbrille bat seine Mutter herein. Als die Professorin Mrs. Singleton mitteilte, dass Colin hochbegabt sei und ein ganz besonderer Junge, spielte Colin mit einem Haufen Holzbuchstaben. Er zog sich einen Splitter in den Finger, als er n-e-b-e-l zu l-e-b-e-n umlegte – das erste eigenhändige Anagramm, an das er sich erinnerte.
Die Professorin erklärte Mrs. Singleton, dass Colins Begabung gefördert werden müsse, er aber nicht bedrängt werden sollte, und sie warnte: »Setzen Sie keine übertriebenen Erwartungen in ihn. Kinder wie Colin können Informationen sehr schnell verarbeiten. Sie zeigen eine außerordentliche Fähigkeit, sich auf Aufgaben zu konzentrieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass er den Nobelpreis gewinnt, ist bei ihm nicht größer als bei jedem anderen einigermaßen intelligenten Kind.«
An jenem Abend schenkte sein Vater ihm ein neues Buch – Die Geschichte vom Missing Piece von Shel Silverstein. Colin setzte sich neben seinen Dad aufs Sofa und blätterte mit seinen kleinen Händen die großen Seiten um. Er las und las und machte nur eine Pause, um zu fragen, ob »gucken« das Gleiche wie »kucken« war. Als er durch war, schlug er den Buchdeckel mit großer Geste zu.
»Hat es dir gefallen?«, fragte sein Dad.
»Ja«, sagte Colin.
Ihm gefielen alle Bücher, allein, weil ihm das Lesen gefiel, das Wunder, wie sich ein paar Striche auf dem Papier in seinem Kopf in Worte verwandelten.
»Und worum geht es in dem Buch?«, fragte sein Dad.
Colin legte ihm das Buch auf den Schoß und sagte: »Dem Kreis fehlt ein Teil. Das fehlende Teil sieht aus wie eine Pizza.«
»Wie eine Pizza oder wie ein Stück Pizza?« Sein Vater lächelte und legte ihm seine großen Hände mit den abgekauten Fingernägeln auf den Kopf.
»Wie ein Stück Pizza. Und der Kreis geht dann das fehlende Teil suchen. Und er findet ganz viele falsche Teile. Und dann findet er das richtige Teil. Aber er lässt es liegen. Da hört es auf.«
»Hast du auch manchmal das Gefühl, du bist ein Kreis, dem ein Teil fehlt?«, fragte sein Dad.
»Ich bin doch kein Kreis, Daddy. Ich bin ein Junge.«
Das Lächeln seines Vaters ließ ein wenig nach – das Wunderkind konnte lesen, doch es konnte nicht sehen. Hätte Colin damals nur erkannt, dass auch ihm ein Teil fehlte, und dass seine Unfähigkeit, sich selbst in der Geschichte des Kreises wiederzufinden, ein schwerwiegendes Problem darstellte – vielleicht hätte er dann gewusst, dass der Rest der Welt ihn einholen würde, irgendwann. Oder, um es mit einer anderen Geschichte auszudrücken, die er auswendig gelernt, aber nie richtig begriffen hatte: Wenn er verstanden hätte, dass es in der Geschichte vom Hasen und vom Igel um mehr ging als nur um einen Hasen und einen Igel, dann wäre ihm wohl eine Menge Ärger erspart geblieben.
Als er drei Jahre später in der Kalman School eingeschult wurde – ohne Schulgeld zahlen zu müssen, weil seine Mutter zum Lehrkörper gehörte –, war er nur ein Jahr jünger als die meisten seiner Klassenkameraden. Sein Vater drängte ihn zwar, mehr und intensiver zu lernen, doch Colin war keines dieser Wunderkinder, die schon mit elf
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