Die Erste Liebe: Nach 19 Vergeblichen Versuchen Roman
Bertrand interviewen. »Oje«, seufzte Lindsey, als Colin vorlas. »Die wohnt im anderen Altersheim. Das mit den wirklich alten Leuten. Ich glaube, das packe ich heute nicht. Komm, wir schwänzen alle. Wir gehen wieder ins Bett und schlafen.«
»Ich bin dafür«, nuschelte Hassan durch seine fleischige Lippe.
»Wahrscheinlich könnte sie ein bisschen Gesellschaft gebrauchen«, entgegnete Colin, der versuchte, seine Erfahrungen mit der Einsamkeit für etwas Gutes einzusetzen.
»Gott, du kannst einem echt den Spaß verderben«, seufzte Lindsey. »Na gut, lass uns gehen.«
Mabel Bertrand wohnte in einer betreuten Wohnanlage, etwa fünfundzwanzig Kilometer von Gutshot entfernt, eine Autobahnausfahrt nach Hardee’s. Lindsey kannte den Weg, deshalb saß sie am Steuer. Keiner sagte etwas während der Fahrt. Es gab nicht viel zu bereden. Außerdem fühlte Colin sich wie durch den Fleischwolf gedreht. Immerhin hatte sich sein Leben so weit beruhigt, dass er sich wieder mit der beunruhigenden Frage beschäftigen konnte, die Katherine III. aufgeworfen hatte, nämlich weshalb ihn seine Erinnerung getrogen hatte. Allerdings brummte sein Schädel zu laut, als dass ihm irgendeine Lösung einfiel.
Am Empfang wurden sie von einem Pfleger abgeholt, der sie zu Mabel Bertrands Zimmer brachte. Das Heim war wesentlich deprimierender als Sunset Acres. Das einzige Geräusch war das Summen der Maschinen, und die Flure waren menschenleer. Im Gemeinschaftsraum lief die Wettervorhersage im Fernsehen bei voller Lautstärke, doch keiner sah zu. Die meisten Türen waren geschlossen, und die wenigen Leute, die im Gemeinschaftsraum saßen, wirkten verwirrt oder apathisch oder, was das Schlimmste war, als hätten sie Angst.
» Miss Mabel , Sie haben Besuch«, sagte der Pfleger mit aufgesetzter Herzlichkeit. Colin stellte das Aufnahmegerät an. Er hatte kein neues Band eingelegt, sondern überspielte DACs Geständnis.
»Guten Tag«, sagte Miss Mabel. Sie saß in einem Ledersessel in einem Zimmer, das aussah wie im Internat: ein schmales Bett, ein Stuhl, ein unbenutzter Schreibtisch und ein Minikühlschrank. Ihre dünnen weißen Locken waren zu einem Senioren-Afro gestylt. Zusammengesunken saß sie in ihrem Sessel, und sie roch alt, ein wenig nach Formaldehyd. Lindsey beugte sich vor, umarmte Miss Mabel und küsste sie auf die Wangen. Dann stellten sich Colin und Hassan vor, und Miss Mabel lächelte schweigend.
Mit leichter Verspätung bemerkte Miss Mabel: »Ist das nicht Lindsey Wells?«
»Ja, Ma’am«, sagte Lindsey und setzte sich zu ihr.
»Lindsey, Kleines, ich habe dich ja ewig nicht gesehen. Es muss Jahre her sein, oder? Lieber Himmel, ist das schön, dich zu sehen.«
»Dich auch, Miss Mabel.«
»Ach, ich hab so viel an dich gedacht. Und ich hab immer gehofft, dass du mich besuchen kommst, aber du bist nie gekommen. Jetzt bist du schon so groß und so hübsch geworden. Färbst dir die Haare gar nicht mehr blau, so, so. Wie ist es dir ergangen, mein Schätzchen?«
»Mir geht es gut, Miss Mabel. Aber wie geht es dir?«
»Ich bin vierundneunzig! Was meinst du, wie es einem da geht?« Mabel lachte und Colin ebenfalls. »Und wie heißt du?«, fragte sie ihn, und er antwortete brav.
»Hollis«, sagte sie dann zu Lindsey, während sie mit einem krummen Zeigefinger auf Hassan zeigte, »ist das nicht Dr. Dinzanfars Schwiegersohn?«
»Aber nein, Miss Mabel. Ich bin Hollis’ Tochter, Lindsey. Dr. Dinzanfars Tochter Grace war meine Großmutter, und Corville Wells war mein Großvater. Das hier ist Hassan, ein Freund von mir, der mit dir über die alten Zeiten in Gutshot reden will.«
»Das ist aber nett«, sagte Miss Mabel verwirrt und erklärte: »Manchmal komme ich ein bisschen durcheinander.«
»Schon gut«, sagte Lindsey. »Es ist schön, dich zu sehen.«
»Ach, Lindsey, ich kann mich gar nicht satt sehen an dir, so hübsch bist du geworden. Jetzt bist du richtig in dein Gesicht reingewachsen, nicht wahr?« Lindsey lächelte, doch Colin bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte.
»Erzähl uns von der guten alten Zeit in Gutshot«, bat Lindsey, und Colin wusste, dass Hollis’ vier Fragen heute nicht gefragt waren.
»Ich hab viel an Dr. Dinzanfar gedacht. Bevor er die Textilfabrik gegründet hat, hat ihm der General Store gehört. Da war ich noch ein kleines Ding, dreikäsehoch. Und er hatte ja nur ein Auge, wisst ihr. Hat im Ersten Weltkrieg gekämpft. Einmal sind wir in seinem Laden gestanden, und Daddy hat mir einen
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