Die erste Nacht - Roman
Der Sturm hatte nochmals an Stärke zugenommen, und wir durften das Zelt nicht verlassen, ohne uns anzuseilen.
Auf dem Weg in die Kantine mussten wir uns mit einer starken Taschenlampe ausrüsten und tief gebückt gehen, um den Böen möglichst wenig Angriffsfläche zu geben. Am späten Nachmittag informierte uns Egorov, das Schlimmste sei überstanden. Das Tief würde sich nicht auf unsere Region ausdehnen, und die Nordwinde würden es bald vertreiben. Er hoffte, die Arbeiten am nächsten Tag wieder aufnehmen zu können. Keira und ich versuchten abzuschätzen, welche Schneemengen wir wegräumen müssten, um überhaupt bis ans Erdreich zu gelangen. Um die Zeit totzuschlagen, blieb uns nichts anderes, als Karten zu spielen. Keira stand während einer Partie mehrmals auf, um die Wetterlage zu prüfen, kehrte aber jedes Mal wenig hoffnungsvoll zurück.
Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr wurde ich von Geräuschen vor unserem Zelt geweckt. Ich stand leise auf, zog den Reißverschluss ein Stück auf und steckte den Kopf hinaus. Der Sturm war einem hauchfeinen Schnee gewichen, der vom grauen Himmel rieselte. Mein Blick wanderte zu den Steinkolossen, die im Morgengrauen auftauchten. Doch etwas anderes erregte bald darauf meine Aufmerksamkeit, etwas, das ich lieber niemals gesehen hätte. Am Fuß des allein stehenden Steinriesen, von dem es hieß, er würde den Leichnam eines Schamanen aus alter Zeit beherbergen, lag der eines meiner Zeitgenossen in einer Blutlache, die den Schnee besudelte.
Und hinter einem Hügel tauchten etwa dreißig Gestalten in weißen Overalls auf, kamen näher und umzingelten unser Lager. Einer unserer Leibwächter trat ins Freie, und ich sah, wie er, von einer Kugel in die Brust getroffen, innehielt. Er hatte eben noch Zeit, einen Schuss abzugeben, bevor er leblos zusammenbrach.
Damit war der Alarm ausgelöst. Egorovs Männer, die aus ihren Zelten stürzten, wurden mit quasi militärischer Präzision
abgeschlachtet. Es war ein wahres Gemetzel. Diejenigen, die im Zeltinneren geblieben waren, gingen in Stellung und erwiderten das Feuer mit ihrem Pumpguns, deren Reichweite sehr viel geringer war. Der Kampf ging weiter, unsere Angreifer gewannen Terrain und näherten sich robbend. Zwei von ihnen wurden getroffen.
Die Schüsse hatten Keira geweckt. Sie schnellte von ihrem Bett hoch und sah meine aschfahle Miene. Ich drängte sie, sich auf der Stelle anzuziehen. Während sie in ihre Stiefel schlüpfte, versuchte ich, unsere Situation einzuschätzen: An Flucht war nicht zu denken und unter der Plane hindurchzuschlüpfen unmöglich, da sie viel zu fest im Boden verankert war. Panik bemächtigte sich meiner, ich griff nach einem Spaten und begann zu graben. Keira näherte sich dem Zelteingang, den ich offen gelassen hatte. Ich schnellte herum und riss sie zurück ins Zeltinnere.
»Sie zielen auf alles, was sich bewegt. Bleib von den Wänden weg und hilf mir!«
»Adrian, das Eis ist hart wie Holz, du verschwendest deine Zeit. Wer sind diese Typen?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben nicht die Höflichkeit, sich vorzustellen, bevor sie uns abknallen!«
Eine erneute Serie von Schüssen, diesmal in Salven. Ich hielt es plötzlich nicht mehr aus, so machtlos zu sein, und tat genau das, was ich Keira gerade verboten hatte. Als ich erneut den Kopf nach draußen steckte, wurde ich Zeuge eines wahren Blutbads. Die Männer in Weiß näherten sich einem Zelt, schoben am Boden ein Kabel hinein, das es ihnen erlaubte, ins Innere zu schauen. Wenige Sekunden später leerten sie ihre Magazine und nahmen sich das nächste Zelt vor.
Ich zog den Reißverschluss wieder zu und legte mich über Keira, um sie zu schützen, so gut ich konnte.
Sie hob den Kopf, lächelte traurig und drückte mir einen Kuss auf die Lippen.
»Das ist unglaublich ritterlich von dir, mein Liebster, doch ich fürchte, es wird nicht viel nützen. Ich liebe dich und bereue nichts«, sagte sie und küsste mich erneut.
Uns blieb nichts anderes zu tun, als zu warten, bis die Reihe an uns war. Ich hielt sie in den Armen und flüsterte, dass auch ich nichts bereute. Unsere Liebesgeständnisse wurden durch das Eindringen von zwei Männern mit Sturmgewehren abrupt unterbrochen. Ich zog Keira noch fester an mich und schloss die Augen.
Luzhkov-Brücke
Der Vodootvodnyi-Kanal war zugefroren. Mehrere Schlittschuhläufer glitten in raschem Tempo über die dicke Eisdecke. MOSKAU begab sich zu Fuß in sein Büro. Ein schwarzer Mercedes folgte ihm in einigem
Weitere Kostenlose Bücher