Die erste Nacht - Roman
können, welche Richtung wir für den weiteren Weg einschlagen müssen. Die Bergwände sind vereist, und wir können nicht wieder hinabsteigen. Kein Wild, keine Vegetation, keine Nahrung, mir wird klar, dass wir hungers sterben werden. Die schon tot sind, liegen unter dem Schnee begraben. Mir ist bewusst, dass bald die Reihe an mir ist, also beschließe ich, meine letzten Kraftreserven zu nutzen und in den Stein eines der Kolosse das Fragment einzufügen, für das ich verantwortlich bin. Ich habe die Hoffnung, dass jemand es eines Tages findet und die Reise fortsetzt.«
»Das ist in der Tat eine sehr lebendige Beschreibung«, sagte ich zu Keira. »Doch das sagt uns nicht, welchen der Riesen er gewählt hat.«
»Wir müssen die Ausgrabungen hier im Zentrum des Plateaus einstellen«, sagte Keira, »und am Fuß der Kolosse weitergraben. Wenn wir dort eine Mumie finden, sind wir am Ziel.«
»Wie kommen Sie auf diese Idee?«, fragte Egorov.
»Auch ich fühle mit diesem Mann«, erwiderte Keira, »und wenn ich meinen Auftrag ausgeführt, das Fragment in den Stein eingelassen und dann gesehen hätte, dass alle meine Kameraden
tot sind, so hätte ich mich am Fuß des Kolosses zum Sterben niedergelassen.«
Egorov vertraute auf Keiras Instinkt und zitierte seine Männer herbei, um ihnen neue Instruktionen zu geben.
»Wo sollen wir anfangen?«, fragte Egorov an Keira gewandt.
»Kennen Sie den Mythos der Sieben Weisen?«, entgegnete Keira.
»Die Abgal. Diese Sieben Weisen sind fischartige Mischwesen, die man in mehreren alten Kulturen in Form von Göttern findet. Die sieben Wächter über Himmel und Erde, die den Menschen das Wissen zutragen. Wollen Sie meine Kenntnisse in puncto Sumerer auf die Probe stellen?«
»Nein, aber wenn nun die Sumerer in den Kolossen die Sieben Abgal gesehen hätten …«
»Dann«, unterbrach er Keira, »hätten sie den ersten unter ihnen gewählt, denjenigen, der sie anführte.«
»Der Koloss, der den anderen gegenübersteht?«, fragte ich.
»Ja, sie nannten ihn Adapa«, antwortete Egorov.
Egorov befahl seinen Männer, sich am Fuß des gewaltigen Totems zu versammeln und dort zu graben. Keira drängte Egorovs Männer, nichts zu überstürzen und den Boden mit größerer Sorgfalt zu untersuchen, vielleicht war der Sumerer ja auch mit dem Fragment in der Hand gestorben.
Wir würden uns noch gedulden müssen, denn es fing wieder kräftig an zu schneien und die Wetterbedingungen verschlechterten sich von Stunde zu Stunde. Ein Sturm erhob sich, der noch heftiger war als der vom Vortag, und so waren wir gezwungen, die Arbeiten einzustellen. Ich war völlig zerschlagen und erschöpft und träumte von einem warmen Bad und einer weichen Matratze. Egorov erlaubte allen, sich auszuruhen. Sobald sich der Sturm gelegt hätte, würde er zum Wecken blasen, selbst wenn es mitten in der Nacht wäre. Keira war aufgeregter
denn je und verfluchte den Sturm, der uns hinderte, unsere Suche fortzusetzen. Sie wollte unser Zelt verlassen, um im Labor die ersten Proben zu untersuchen. Ich redete mit Engelszungen auf sie ein, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Die Sichtweite betrug nicht einmal fünf Meter, und sich unter diesen Bedingungen nach draußen zu wagen, wäre mehr als leichtsinnig. Schließlich konnte ich sie überzeugen, und sie legte sich zu mir auf das Feldbett.
»Ich glaube, ich bin verdammt«, sagte sie.
»Es ist nur ein Schneesturm mitten im Winter und mitten in Sibirien. Ich glaube, da kann man nicht von Verdammnis sprechen. Ich bin sicher, das Wetter bessert sich morgen.«
»Egorov hat durchblicken lassen, dass es sich um mehrere Tage handeln kann«, brummte Keira.
»Du siehst schlecht aus, du solltest dich ausruhen. Und selbst wenn es achtundvierzig Stunden dauern sollte, geht davon die Welt nicht unter. Die Entdeckungen, die du heute Morgen gemacht hast, sind von unschätzbarem Wert.«
»Warum schließt du dich bei alledem immer aus? Ohne dich wären wir niemals hier, und nichts von dem, was wir erlebt haben, wäre passiert.«
Ich dachte an die Ereignisse der letzten Wochen zurück, und diese ansonsten sehr anerkennende Bemerkung machte mich sprachlos. Keira schmiegte sich an mich, und ich lag lange wach und lauschte ihrem Atem. Draußen tobte der Sturm mit immer kräftigeren Böen, und ich dankte im Stillen dem Wettergott für den Aufschub, den er uns gewährte, und für diese kostbaren Momente der Zweisamkeit.
Am folgenden Tag war es fast so finster wie mitten in der Nacht.
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