Die erste Nacht - Roman
ich aus dem Zelt. Nur wenige Meter trennten uns von der Kantine; dort angekommen aber hatte ich den Eindruck, schon alle Kalorien vom späten Abendessen verbrannt zu haben. Es herrschten polare Temperaturen. Egorov versicherte uns, in einigen Stunden würde die Kälte nicht mehr so beißend sein. Gleich nach dem Frühstück machte sich Keira an die Arbeit, ich begleitete sie. Sie musste sich erst einmal an diese rauen Bedingungen gewöhnen. Einer von Egorovs Männern - er sprach ein relativ korrektes Englisch - diente ihr als Dolmetscher. Das Ausgrabungsareal war abgesteckt worden. Keira verschaffte sich einen Überblick und betrachtete die Steinkolosse. Diese Riesen waren wirklich beeindruckend. Ich fragte mich, ob allein die Natur für die Form verantwortlich war, die sie angenommen hatten. Zweihundert Millionen Jahre, in denen Regen und Wind an ihnen gemeißelt hatten.
»Glaubst du wirklich, dass ein Schamane im Inneren gefangen ist?«, fragte Keira und näherte sich dem einsamen Totem.
»Wer weiß…«, erwiderte ich. »Vielleicht steckt doch ein Quäntchen Wahrheit in solchen Legenden.«
»Ich habe den Eindruck, sie beobachten uns.«
»Die Riesen?«
»Nein, Egorovs Männer! Sie tun so, als würden sie uns
nicht beachten, doch ich spüre, dass sie uns abwechselnd überwachen. Das ist völlig albern, wo sollten wir denn hin?«
»Ja, das bereitet mir auch Kopfzerbrechen, wir sind in bedingter Freiheit inmitten einer feindlichen Landschaft und total abhängig von deinem neuen Freund. Wer garantiert uns - sollten wir unser Fragment tatsächlich finden -, dass er sich seiner nicht bemächtigt und uns hier zurücklässt?«
»Davon hätte er gar nichts. Schließlich bedarf er unserer wissenschaftlichen Unterstützung.«
»Vorausgesetzt, er hat uns die Wahrheit gesagt.«
Wir wechselten schnell das Thema, denn Egorov kam auf uns zu.
»Ich habe meine Unterlagen von damals konsultiert. Wir müssten die ersten Gräber in der Zone dort hinten finden«, sagte er und deutete auf einen Bereich zwischen zwei der Steinriesen. »Beginnen wir mit dem Graben, die Zeit drängt.«
Egorovs Gedächtnis schien immer noch blendend zu funktionieren, auf jeden Fall erwiesen sich seine Aufzeichnungen als äußerst zuverlässig, und schon gegen Mittag führten die Ausgrabungen zu einer Entdeckung, die Keira den Atem nahm.
Wir hatten den Morgen damit zugebracht, die Erde in einer Tiefe von achtzig Zentimetern abzuheben, als plötzlich die Reste eines Grabes zum Vorschein kamen. Keira kratzte am Boden und förderte ein Stück schwarzen Stoffs ans Tageslicht. Mit einer kleinen Pinzette entnahm sie ein paar Fasern und schob sie in ein Glasröhrchen, das sie gleich darauf verschloss. Dann setzte sie ihre Arbeit fort und entfernte das Eis mit unendlicher Sorgfalt. Etwas weiter entfernt gingen Egorovs Männer nach dem gleichen Schema vor.
»Wenn das wirklich Sumerer sind, dann ist das einfach großartig!«, rief sie und richtete sich auf. »Eine ganze Gruppe von Sumerern im Nordwesten des Urals - stell dir doch mal
die Tragweite dieser Entdeckung vor, Adrian! Und der Erhaltungszustand ist ganz außergewöhnlich. Wir werden herausfinden können, wie sie sich gekleidet, wie sie sich ernährt haben.«
»Ich dachte, sie wären den Hungertod gestorben!«
»Ihre vertrockneten Organe und die Knochen werden Spuren von Bakterien aufweisen, die Hinweise auf ihre Ernährung und durchgemachte Krankheiten geben.«
Ich entzog mich ihren wenig appetitlichen Erläuterungen, indem ich uns eine Thermoskanne mit Kaffee holte. Keira wärmte sich die Finger an ihrer Tasse auf, nachdem sie jetzt bereits zwei Stunden die Eisschichten entfernte. Obgleich sie Rückenschmerzen hatte, kniete sie sich hin und machte sich erneut an die Arbeit.
Am frühen Abend waren elf Gräber freigelegt. Die Leichen, die sich darin befanden, waren durch die Kälte mumifiziert, und so stellte sich sogleich die Frage der Aufbewahrung. Keira schnitt das Thema während des Abendessens an.
»Bei den derzeitigen Temperaturen besteht keine Gefahr. Wir werden sie in einem unbeheizten Zelt lagern. Übermorgen lasse ich per Hubschrauber luftundurchlässige Container einfliegen und zwei der Leichen nach Petschora überführen. Ich denke, es ist wichtig, dass sie in der Republik Komi bleiben. Es gibt keinen Grund, dass die Mitglieder der Moskauer Akademie sie kassieren. Wenn sie die Mumien sehen wollen, dann sollen sie herkommen.«
»Und was machen wir mit den anderen? Sie haben von
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